“Amy ist leider noch nicht aufgestanden! Die Interviews werden sich wohl ein bisschen verzögern.”
Der vormittägliche Anruf der Plattenfirma kommt nicht wirklich überraschend. Am Vorabend hat Amy Winehouse ein kleines, feines Konzert in Berlin gegeben, um ihr zweites Album ‘Back To Black‘ vorzustellen, und auch wenn sie die Bühne um 23.00 Uhr schon wieder verlassen hatte, kann man sich schwer vorstellen, dass die 23-Jährige anschließend schnurstracks ins Hotelbett verschwunden ist. Im VIP-Bereich floss der Rickstasy jedenfalls in Strömen, und weil die Mischung aus Wodka, Southern Comfort, Bananenlikör und Baileys Amys Lieblingscocktail ist, wird sie sich vielleicht auch noch den ein oder anderen gegönnt haben. Und überhaupt: wer ein echter Pop-Star sein will, darf natürlich auch einen Promotion-Tag nicht ohne Verspätung beginnen.
“Noch ist Amy nicht aus ihrem Zimmer gekommen. Es geht ihr nicht besonders gut. Wir fangen also gute drei Stunden später mit unseren Terminen an. Kannst du vielleicht auch heute Abend?”
Der zweite Anruf der Plattenfirma kommt ziemlich genau zu dem Zeitpunkt, an dem man eigentlich längst mit der Dame im Gespräch sein sollte. Statt mit ihr über ihr Image zu plaudern, bestätigt sie es also schon einmal, bevor man sich überhaupt begegnet ist. Amy Winehouse gilt seit ihrem angenehmen Debütalbum ‘Frank’, das vor gut zwei Jahren in Deutschland erschien und von Blues über Jazz bis zu HipHop-Beats die gesamte Bandbreite schwarzer Musik zum Vorbild hatte, nämlich nicht nur als großartige Sängerin mit einer trotz ihrer jungen Jahre einzigartigen Stimme. Vor allem ist sie auch als Krawallnudel und Schnapsdrossel bekannt, die sich nicht selten mit Liebhabern oder auch Fans prügelt, angeblich manisch-depressiv ist und obendrein noch Essstörungen mit sich herumträgt.
Die Cocktails vom Vorabend hat sie sich also vielleicht nicht genüsslich gegönnt, sondern überstürzt hinter die Binde gekippt. Unprofessionell? Vielleicht, aber eben auch sehr passend. Schließlich beginnt Amy ihr zweites, noch besseres Album ‘Back To Black’, auf dem die verrauchten Jazz-Elemente des Vorgängers zugunsten etwas leichtfüßigeren Sixties-Souls in den Hintergrund treten, mit dem Song ‘Rehab’. Jeder, der ihr eine Entziehungstherapie vorschlägt, hat darin mit Ärger zu rechnen – und vermutlich auch mit wenig Erfolg, schließlich beschließt Amy das Album (wenn auch nur die britische Version) mit dem treffenden Titel ‘Addicted’.
“Amy hat doch früher Schluss gemacht heute. Sie ist wirklich schlecht drauf und brauchte jetzt eine Pause zum Feierabend.”
Um ihren Ruf als komplizierte Exzentrikerin scheint Amy Winehouse erstaunlich bemüht zu sein. Den ganzen Tag hat man auf sie gewartet und sich von Termin zu Termin schieben lassen, um mit ihr zu sprechen, doch als es eigentlich soweit sein soll, hat Madame mehr Lust auf eine entspannende Massage und den Arbeitstag längst beendet. Bei jeder anderen Künstlerin unterhalb des Legenden-Status einer Madonna würde man sich schwarz ärgern über soviel Unprofessionalität, doch erstaunlicherweise nimmt man der in Middlesex geborenen Britin ihr Verhalten kaum übel. Es fügt sich einfach bestens ins Gesamtbild.
Geschadet hat ihrer Karriere all das bisher eigentlich nicht, und es bleibt anzunehmen, dass ihr auch der jüngste Vorfall in einem Londoner Nachtclub verziehen wird: Dort beendete Amy einen Auftritt schon während des ersten Songs, nachdem sie sich noch auf der Bühne übergeben hatte. Eine Woche später standen trotzdem gleich zwei ihrer Singles in den britischen Top Ten und ‘Back To Black’ wurde für allerlei Preise bei den renommierten Brit Awards nominiert.
Überhaupt verhält sich Amy Winehouse zu ausstrahlungsarmen Pop-Sternchen à la Jessica Simpson wie der neue, raue James Bond von Daniel Craig zu seinem lackaffigen Vorgänger Pierce Brosnan. Sie trägt den Lidstrich viel zu dick, die Kleidchen zu kurz und rasiert sich nur sporadisch unter den Achseln, aber gerade die Stil bewusste Lässigkeit, mit der sie das tut, macht ihre Coolness aus. Amy ist glamouröse Diva und Trash-Schlampe in einer Person – eine faszinierende Kombination, die sonst bestenfalls Marilyn Manson beherrscht und an der Amys gute Freundin Kelly Osbourne regelmäßig scheitert. Dass sie dabei manchmal fast furchteinflößend unberechenbar rüberkommt, erhöht den Reiz noch.
Stress mit dem Freund soll Amy während ihres Berlin-Besuchs gehabt haben, und die Kollegen, die doch zum Zuge kamen, berichten von SMS-Tiraden während der Interviews und von so mancher Träne. Böse sein kann man der Engländerin also wirklich nicht, denn wenn es eine Entschuldigung für Zickigkeiten gibt, dann ist es Ärger mit den Männern.
Aber überhaupt sollte man sich einfach freuen, dass es jemanden wie Amy Winehouse gibt: eine Sängerin, die vielleicht etwas durchgeknallt, aber eben auch stark ist; die weiß, wovon sie in ihren offenherzigen Liedern singt und ihren ganz eigenen Weg geht. Solche wunderbar eigenwilligen Pop-Stars sind heutzutage nämlich viel zu selten.
Text: Patrick Heidmann
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