Albert Koch fragt in seinem neuen Buch „Fuck Forever – Der Tod des Indierock“: „Was passiert, wenn der Underground zum Mainstraim wird? Wird alles anders, oder bleicht es so, wie es immer war – und nur die Namen der wichtigsten Akteure haben sich geändert?“ 2005 führten Franz Ferdinand den Wave, 2006 Billy Talent den Punk an die Spitze der internationalen Hitparaden. Aus der bebrillten Indie-Zielgruppe wurde ein breites Publikum. Musikalischer Konsens zu welchem Preis und mit welchen Folgen? Weltweite Erreichbarkeit der Musik, Sicherung der künstlerischen Autonomie und Marktöffnung für weitere Genre-Bands, schön und gut, wenn aber aus der ehemaligen musikalischen Alternative eine eigene Mainstreamkategorie geworden ist, die es bis in die CD-Regale der Supermärkte geschafft hat, empfindet der Hörer letztlich nur noch tiefen Hass für die Wandlung. Wie das klingen kann, bewiesen in den Neunzigern eindrucksvoll der Atari Teenage Riot.
Vom Ausverkauf der Technoszene angewidert, beschließen 1992 die Berliner DJ´s Empire, Carl Crack und Hanin Elias mit ihrer Band eine völlig neue Musikrichtung zu kreieren, die es schaffen sollte, die selbe Aufregung zu versprühen, die alle drei Bandmitglieder gespürt hatten, als sie das erste Mal Punk, Hip Hop oder Techno hörten. Das Ergebnis, ein Artcore-Krach-Techno, wird von Kritikern aufs Höchste gelobt, für den Normalkonsumenten ist es letztlich eine kaum auszuhaltende Krawall-Qual für Geist und Körper. „Noise ist der Schlüssel- das Leben ist voll von Noise- nur der Tod ist ruhig.“ (Alec Empire). Hinzu kommt das resolute links-radikale Statement: „Bei Atari Teenage Riot geht es darum, gegen das politische System in dieser Welt anzukämpfen. Wir sind da um die von den Medien und der Unterhaltungsbranche vorgetäuschte Harmonie zu zerstören.“ So gelang es ihnen, auf innovativem Wege, die Einstellung des Punks auch musikalisch in das 21. Jahrhundert zu transportieren. Die Politdisko war geboren.
Erstes Lebenszeichen der Formation war die Single „Hetzjagd auf Nazis“ (1992). Sie erschien auf dem Berliner Indie-Label Force Ink. Die Band sorgt mit ihren aggressiven Punk-Techno-Botschaften schnell für Aufhorchen in der nationalen Punkszene. Es folgen weltweite Supporttouren u.a. auch für die Grungelegende Dinosaur Jr. Bald werden auch andere Label auf das Trio aufmerksam. 1993 klopft das englische Label Phonogramm an der Tür von Atari Teenage Riot. Die Chance nutzend, bringen sie unter Phonogramm zwei EPs und eine 12“-Single auf den Markt. Erst als das Label ATR kommerzialisieren will, kommt es zum Split. Mit dem Vorschuss für ein geplantes Album gründen die Berliner ihr eigenes kleines Label mit dem Namen „Digital Hardcore Recordings“. Via „Digital Hardcore Recordings“ erscheint 1995 auch ihr erstes Album „Delete Yourself“.
Die Berliner Acid House Welle sorgt auch in Amerika für Furore. Als Folge zeigt sich das Beastie Boys Label „Grand Royal“ an ATR interessiert- 1996 unterzeichnet man einen gemeinsamen Vertrag. Via „Grand Royal“ erscheinen einige 7inches von Atari Teenage Riot selbst (unter anderem die Skandal-Single „Deutschland Has Gotta Die“) und anderen Digital Hardcore Recordings Acts. Mit Hilfe des amerikanischen Partners bringt die Band 1997 das zweie Album auf den internationalen Markt und entwickelt sich zum gefragten Act. Es Folgen Auftritte im Vorprogramm von Slayer und Rage Against The Machine. Zusätzlich nimmt man zusammen mit Tom Araya und CO für den den Spawn-Soundtrack den Song “No Remorse (I wanna Die)” auf. Am Ende des Jahres stößt dann noch Nic Endo zur Band, die bereits bei Digital Hardcore Act Fatal zu Gange war.
1999 kehrt ATR wieder zum eigenen Label zurück. Es erscheint das neue Album „60 Seconds Wipe Out“. Auf der dazugehörigen Tour spielt man unter anderem im Vorprogramm von Nine Inch Nails. Zusätzlich erscheint 2000 eine Livemitschnitt vom Londoner Brixton Academy Auftritt, der mit den eigenen Worten „endloser Krach“ bestens beschrieben wird. Das Besondere, auf der CD befindet sich lediglich ein 26 Minuten langer Track.
Nach der Tour war vorerst Schluss mit dem Musikradau. Die Band verschrieb sich selbst eine einjährige Pause zur Überwindung der großen Differenzen zwischen Band und MC Carl Crack, der zu der Zeit an starken psychischen Problem litt. Er begab sich in psychische Behandlung. Ein Jahr später wird er tot in seiner Berliner Wohnung gefunden.
Die Zukunft der Band ist zunächst ungewiss. Sängerin Hanin Elias und auch Alec Empire wandeln auf Solopfaden. Noch zu Atari Teenage Riot Zeiten gründet Elias ihr eigenes Label „Fatal Recordings“ auf dem sie seit 1998 auch eigene Platten veröffentlicht. Die neuste hört auf den Namen „In Flames“ und ist in erster Linie eine sensible Elektroplatte mit Joy Division Einlagen, komplizierten Soundcollagen und Spielorgel. Alec Empire arbeitet indes wieder als Disc-Jockey und Produzent.
Anfang 2010 kündigen Atari Teenage Riot dann eine Reunion Show in London sowie eine neue Single an. Als neues Mitglied steigt MC CX Kidtronik in die Band ein. Die Gesangsparts von Hanin Elias werden fortan von Nic Endo übernommen. Im selben Jahr folgt eine Tour durch China, Japan, Deutschland und die USA sowie erste Spekulationen über ein neues Album. Im März 2011 geben sie dann endlich bekannt, dass nach 12 Jahren Release-Pause mit einem neuen Langspieler zu rechnen ist. Mit dem Titel “Is This Hyperreal?” erscheint die Platte am 17. Juni 2011. Eine umfangreiche Tour durch Europa und Amerika folgt.
Hans Erdmann
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