Steinig und lang ist der Weg zur Erkenntnis. Vor allem, wenn es um Alben von Tool geht. Vor fünf Jahren lieferten Maynard James Keenan und seine Band mit `Lateralus` das düster-komplexe Mammutalbum ab, mit dem sie die Messlatte in Sachen schwer kryptischen Progressive-Rocks in Schwindel erregende Höhen legten. Jetzt kommt mit `10.000 Days` das neue Werk einer Band, die sich beharrlich und noch vehementer weigert, konventionelle Hörgewohnheiten zu bedienen.
Es ist nicht viel, was im Vorfeld der Veröffentlichung an Informationen das Album betreffend durchsickert. So ist die Neugierde groß, als sich Ende Februar dieses Jahres die Musikpresse in einem Münchener Bierkeller versammelt, um hierzulande erste Höreindrücke des zu diesem Zeitpunkt noch unbetitelten Werkes zu ergattern. Angekündigt ist dabei auch das Erscheinen von drei Vierteln Tool (Gitarrist und Videokünstler Adam Jones kümmert sich gerade um das erste Video).
Das Lautsprecherpaar, aus dem sich an diesem Abend die Songs des letzten Albums in moderater Lautstärke den weg an die Ohren der Anwesenden bahnen, wirkt leicht überdimensioniert. Wohl auch deshalb haben die meisten es sich eher auf den hinteren Plätzen bequem gemacht hat. Nach langem Warten verstummt das Stimmengewirr plötzlich: in einen schwarzen Ledermantel gehüllt, einen Cowboystrohhut auf der Glatze und die wahrscheinlich weltweit einzig Kopie des neuen Albums in der Hand, betritt der Heimwerkerkönig höchstselbst, in persona Maynard James Keenan, den Schankraum. „Sorry to interrupt your party“, kommentiert er freudlos die plötzlich eingetretene Funkstille. Mehrere (unterdrückte) Lacher hat er damit auf seiner Seite. Drummer Danny Carey, ein sympathischer, fröhlicher Riese und Bassist Justin Chancellor, inzwischen langhaarig und vollbärtig, nehmen an einem Tisch Platz und bestellen Bier. Keenan wird es nach einer sehr kurz gehaltenen Ansprache vorziehen, den Raum schnurstracks wieder zu verlassen. Seinem Vorschlag, das Album mit geschlossenen Augen auf sich wirken zu lassen, kommt der kleine Lockenkopf, der die Anlage in den nächsten knapp 80 Minuten Stück für Stück bis zur Schmerzgrenze lauter schrauben wird, befriedigt und in Richtung von Drummer und Bassist leicht devot lächelnd nach. Bis zur Veröffentlichung wird es das einzige Mal sein, dass er das komplette Album zu hören bekommt.
Was dann folgt, ist etwas, das wohl jeden der Anwesenden zunächst überfordert und sich nur oberflächlich und kaum adäquat in Worte fassen lässt: Tool hantieren wieder mit beeindruckender Atmosphäre, wahnwitzigen, episch angelegten Arrangements (Songs zwischen sieben und elf Minuten sind keine Seltenheit) und noch verquererer, akrobatischer Rhythmik (es gibt fast durchweg ungerade Takte) herum. Ob man das nun als Musik für Kopf und/oder Bauch begreift, für die Beine ist das Ganze schon lange nicht mehr. Zu Tool tanzen war gestern. Klar, dass sich an diesem Tag nach nur einem Hördurchgang von `10.000 Days` noch nicht genau sagen lässt, welche Bedeutung dieses Album im Schaffen von Keenan und Co. haben wird. Großes Ohren-Kino findet hier aber auf jeden Fall statt.
Tags darauf steht Maynard für Interviews zur Verfügung. Nicht unbedingt eine leichte Aufgabe für Musikjournalisten. Der Mann scheint den Begriff Introvertiertheit erst erfunden zu haben und gibt sich oft einsilbig. 30 Fragen in zehn Minuten? Kann vorkommen. Doch heute, so flüstert man sich zu, ist er gut gelaunt. Das sieht bei ihm so aus: ohne seine belebte Umgebung mit einem Blick zu würdigen schwebt er in die Interviewsuite im Untergeschoss des optisch unterkühlten Dorint Hotels, um dort angekommen sofort in den Energiespar-Modus zu wechseln. Als ich den Raum betrete, sitzt der kleine Mann mit einer US-Postal-Mütze auf dem Kopf zusammengesunken in einem Leder-Sessel des großzügigen Raumes. Das aggressive Rot der Wände scheint keinen Einfluss auf die offenbare Teilnahmslosigkeit des 42jährigen zu haben. Während er den vor ihm stehenden Kaffee scheinbar beim Erkalten beobachtet, träumt der erklärte Weinkenner vielleicht noch von den guten Rotweinen, die er abends zuvor im Delikatess-Tempel `Käfer` verkosten durfte. „Wenn ich nicht schlafen kann, rufe ich Maynard an und er singt mir dann Schlaflieder“, sagte Tori Amos einmal über den scheuen Frontmann, als sie den zu einem Duett bei einem Konzert ankündigte. Da fragt man sich, wer von den beiden da als erster wegdöst.
Maynard, singst du für Tori Amos immer noch ab und zu Schlaflieder?
Das habe ich niemals gemacht. She´s full of shit!
Was? Warum sagt sie denn dann so etwas?
Because she´s full of shit! (kichert kurz) …Ich weiß nicht, ich denke sie sagt so etwas, weil sie Entertainerin ist und die Leute gerne solche Geschichten hören.
Zu Tool. Muss man eure Musik `verstehen`, im analytischen Sinne?
Ich denke, es geht in erster Linie darum, ob ich es brauche, dass sie jemand versteht. Und ich brauche das nicht unbedingt.
Denkst du, es ist möglich, eure Musik auf dem gleichen Level zu erleben, wie ihr sie erlebt als Musiker?
Niemand kann etwas aus der Perspektive eines anderen Individuums erleben.
Ich persönlich finde es immer schwieriger, in eure Musik hinein zu finden.
Wir versuchen, uns als Musiker da zu treffen, wo sich unsere Ideen überschneiden. Irgendetwas davon muss wohl die Leute ansprechen, weil sie sich dafür interessieren. Dahingehend müssen wir wohl etwas richtig machen. Ich versuche nicht, in die Köpfe der Leute zu gucken, oder, wie sie unsere Musik wahrnehmen. Ich würde ja dann Musik für jemand anderes machen. Das würde niemandem nützen. Da könnte ich gleich Werbespots schreiben. Es gibt genug offene Türen, die Leute müssen nur ihre Ärsche hochkriegen und durchgehen.
Ist es leicht für dich, über deine Musik zu reden?
Nein, nicht besonders. Irgendwie ist es wohl das Beste, einfach sich die Musik anzuhören. Je mehr du sie erklären musst, desto weniger kannst du noch entdecken.
Kannst du das Album in irgendeiner Weise inhaltlich zusammenfassen?
Dafür ist es noch zu früh. Ich denke, die Songs werden sich mit der Zeit erklären. Jetzt gerade haben wir keine Distanz, sodass es schwierig ist, da etwas dazu zu sagen. Es gibt so viele Dinge momentan in der Welt, die unsere beeinflussen. Ich könnte mir denken, dass manche dieser Sachen sich im Album zeigen, aber wir nicht in der Lage sind, das momentan zu erfassen. Ich entdecke immer noch Sachen in alten Songs, von denen ich nicht wusste, dass sie da sind. Das Album ist wie ein guter Wein, ein Bordeaux. Du kannst eine Flasche von 2005 aufmachen, aber du wirst nicht sagen können, wie der in 30 Jahren schmecken wird. Weil er noch nicht das ist, was er einmal sein wird. Er braucht Zeit, sich alleine zu entwickeln.
Gibt es ein Ziel, auf das ihr euch künstlerisch zu bewegt?
Das Ziel kann es sein, immer genau das abzubilden, was momentan mit uns und um uns vorgeht und Künstler zu bleiben, deren Verantwortung es ist, diese frischen Erfahrungen unverfälscht zu berichten. Dann werden wir immer etwas machen, das anders sein wird, weil wir eben in einer anderen Periode unseres Lebens sind. Es gibt immer wieder verschiedene Sachen in unserem physischen, geistigen, und emotionalen Erleben.
War es nicht geplant, ein paar Gäste auf dem Album zu haben?
Nein. Wir haben ein paar Leute, die uns bei ein paar Sachen geholfen haben. Aber Gastmusiker gab es keine.
Wir sind eine so isolierte Einheit von vier sehr starken Persönlichkeiten, die versuchen, sich in der Mitte zu treffen. Ich denke nicht, dass es angebracht wäre, andere Elemente da hineinzubringen. Wir wollen die Chemie in der Band rein und unverfälscht halten.
Als Musiker und Künstler werdet ihr oft geradezu auf Händen getragen. Was sagst du dazu?
Ich hoffe immer, dass die Leute das, was wir machen als Katalysator nehmen für ihren eigenen künstlerischen Ausdruck. Dieses Idolisieren führt dazu, dass sie sich komplett auf das fokussieren, was wir machen und sich nicht mehr selbst ausdrücken. Dann fühle ich mich, als hätte ich da versagt. Aber letztendlich ist das deren Problem.
Was hältst du eigentlich von dem, was sich momentan so in der Musik-Szene tut, zum Beispiel von den `Retro-Bands`?
Für mich ist das nicht inspirierend, weil ich es irgendwie schon vorher gehört habe. Es scheint nicht so, als wäre ihre Absicht, die Musik auf eine andere Ebene zu heben. Sie sehen wohl keinen Grund, die Musik neu zu erfinden. Das ist ein Standpunkt, dem ich aber nicht zustimme. Viele Bands sind nur dabei, schon Bekanntes wiederzukäuen. Es ist ein Wunder, dass die nicht wegen Plagiats vor Gericht gezerrt werden.
Ob auf dem kruden `Opiate`(1992) oder auf `Undertow`(1993), dem Werk, das auch den Durchbruch für die Amerikaner bedeutete, als musikalische Sonderlinge waren Tool schon immer zu erkennen. Aber erst `Aenima`, das wohl letzte ansatzweise als `Konsensalbum` zu bezeichnende Werk, wies 1996 am deutlichsten den Weg dahin, wohin die „isolierte Einheit von vier sehr starken Persönlichkeiten“ (Keenan über Tool) mit `Lateralus` und `10.000 Days` steuern sollte. Vielleicht für manchen etwas ernüchternd, dass selbst eine einzigartige Band wie Tool sich in eine lange Reihe von Bands einreiht, was die unkonventionelle, kompromisslose Herangehensweise und das Bestreben angeht, die Musik umzukrempeln oder zu erneuern. Als M.J.Keenan fünf Jahre alt war, wurde mit `In The Court Of The Crimson King`(1969) von King Crimson, den Urvätern des Progressive Rock, der Grundstein für das Genre gelegt, für deren Vertreter schon damals die Evolution in der Musik zum Stillstand gekommen war. Man ließ andere Stile in ausufernde, technisch anspruchsvollere Kompositionen einfließen. Die Prog-Welle damals ebbte nach wenigen Jahren schon ab. Möglich, dass die Leute wieder mehr schlichte und ergreifende Songs hören wollten. Nur natürlich, dass sich mit Tools bis heute immens gestiegener Komplexität und Vielschichtigkeit beim Publikum die Spreu vom Weizen trennt: wo für den einen eine Band es schafft, überzeugend andere musikalische Pfade zu beschreiten, bestehende Konventionen und vor allem Trends erfolgreich zu ignorieren und unterm Strich vor allem große Musik zu schreiben, da agiert mittlerweile für so manchen aber doch auch ein Quartett, das den Song aus den Augen und Ohren verloren hat und das zu abgehoben und nur noch für das `Muckertum` experimentiert, das sich mit einer Dauererektion an technisch-vertrackten, überlangen Epen ergötzt. `10.000 Days` wird wohl die Kluft zwischen Bewunderung und Unverständnis nicht schmaler werden lassen.
Text und Interview: Martin Erfurt
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