Don’t call it Jugendbewegung – der Electro Swing erfasst sowohl die jungen Wilden als auch alten Haudegen und wird dabei nicht nur in Berlin populärer. motor.de versucht das Phänomen zu verstehen und hat mit den Veranstaltern der großen Hauptstadtparty gesprochen.
Die Zeiten, als noch über Original und Fälschung diskutiert wurde, sollten langsam vorbei sein. Dafür hat sich das Handwerk längst als Ausdruck künstlerischer Freiheit etabliert. Jeder kennt sie, namhafte Künstler lassen extra welche anfertigen und mitunter sind sie gar besser als das Original – die Rede ist vom Remix. Von den ersten Dub-Platten über die gleißende Disco-Ära und ihren zahlreichen “Club Versions” bis hin zum Hip Hop – die Wieder- und Weiterverarbeitung gilt heute selbst als Kunstform.

Musikhistorisch wurden in der Remix-Kultur jedoch einige Dekaden übersprungen, die nun spätestens seit Ende der Nullerjahre en vogue zu werden scheinen. Da ist es eine schöne Vorstellung, dass alles mit Vinyl begonnen hat. Mehr als zehn Millionen von ihnen wurden zwischen den 1920er und 50er-Jahren weltweit veröffentlicht. Jazz und seine Metropole Chicago standen in voller Blüte, Bigbands sprossen aus dem Boden; und Swing wurde trotz Armut und Krisen populär, da er die Grenze zwischen Kunst und Unterhaltung durch seine Tanzbarkeit aufweichte. Warum remixte niemand die Musik aus dieser Zeit, fragte sich einst Chris Tofu. Der britische DJ und Produzent gilt als Koryphäe eines Phänomens, das sich unter dem Dach Electro Swing formiert. Spätestens seitdem das australische Duo Yolanda Be Cool & Dcup mit ihrem Hit “We No Speak Americano” die Radiosender dieser Welt eroberte, manifestierte sich diese gepimpte Variante von Swing.

Yolanda Be Cool & Dcup – “We No Speak Americano” 

Knarzende Posaunen und bräsige Trompeten werden einfach einer Verjüngungskur unterzogen, zum klassischen Big-Band-Sound kommen housige Electro-Beats, die gerne mal auf Four-To-The-Floor machen. Dekontextualisierung par excellence – da spielt es keine Rolle, dass das Original aus den Fünfzigern stammt. Abgesehen vom mainstreamigen Ausreißer floriert die Szene seit Jahren. Ihre Helden sind die Berliner Dirty Honkers, Caravan Palace aus Frankreich oder der Österreicher Parov Stelar. Das französische Label Wagram veröffentlichte die ersten LPs unter dem Namen “Electro-Swing Fever”. International gibt es in über 13 Ländern Electro Swing Club-Nächte. Auch Berlin wurde von der Hitzewelle erfasst: ob bei den Kreuzberger Electro-Swing-Club-Veranstaltungen oder der monatlichen Electro Swing Revolution-Partyreihe im Astra – die Szene wächst merklich. Auch andere Städte wie Leipzig, Hildesheim oder Mannheim ziehen allmählich nach. Dabei spielt vor allen Dingen die Retromanie eine große Rolle: Die Herren kleiden sich klassisch mit Hosenträgern und bringen gern mal die ein oder andere Zigarre mit, die Damen geben sich burlesk mit Perlenketten und Federschmuck.

“Diese ganze Vintagekultur stellt in gewisser Weise auch eine Gegenbewegung zu dieser Facebook-Gesellschaft dar, die mitunter sehr sexistisch, oberflächlich und exhibitionistisch ist”, sagt Johannes Heretsch. Der 47-jährige DJ und Musikredakteur gründete zu Beginn des Jahres die Agentur “Electro Swing Revolution”. Er spricht von einer Sehnsucht nach der alten Zeit, von Authentizität. “Auf unsere Partys kommen die 20-Jährigen genauso wie die 40-Jährigen, also Communities, die eigentlich nicht zusammenpassen. Leute, die sich überhaupt nicht kennen – Fremde haken sich ein, machen Paartanz. Das war für uns der Beweis, dass Electro Swing eine Faszination auslöst. Die Leute haben keinen Bock mehr, zehn Euro für einen Club zu bezahlen, in denen die DJs ihre Playlist runterspielen”.

AlgoRhythmik – “Andrew’s Break” (aus der Compilation “Electro Swing Revolution Vol. 2”)

“In Clubs geht man alleine oder zu zweit, man guckt nicht rechts und nicht links, sondern bleibt gerne anonym. Wir schaffen auch immer eine sehr sinnliche Atmosphäre. Ob mit Hula-Hoop-Tanz oder Original Musical- und Filmszenen aus der goldenen Ära – uns geht es um das kollektive Gefühl”, meint Heretschs Kollege Wolfram Guddat. Die beiden Köpfe hinter der “Revolution” lehnen die stumpfe Clubkultur ab, sie wollen das Besondere, für sich und den Besucher. Ihre Partyreihe bildet einen einladenden Kontrapunkt zu den Darkrooms und düsteren Tanzflächen dieser Republik – auf das Ambiente kommt es an. Kein Kopf-Aussschalten oder Drogen-geschwängertes Abschalten also, der Input der Leute ist ihnen nicht nur wichtig, er ist sogar gewollt. Dass es das nicht immer braucht, zeigte der 1. Mai. Angekündigt war eine kleine Tanzveranstaltung auf dem Flugfeld Tempelhof, veranstaltet von Kallias, dem zweiten Veranstalter für Electro Swing in Berlin. Mehr als 10 000 Menschen sind gekommen und tanzten ausgelassen in der Sonne. Sarah ist seit einem Jahr bei der Agentur und macht große Augen, wenn es um diesen einen Tag geht: “Das war wirklich unglaublich, diese riesge Anzahl an Menschen vor dieser kleinen Bühne. Wir hatten nicht damit gerechnet, dass die Leute das so gut annehmen würden”, staunt Sarah Reichardt.

Electro Swing Club Open Air – 1. Mai 2012

Sie betont die verspielte, offene Seite aber auch dekadente Facette von Electro Swing: “Es gibt in dem Bereich große Freiheiten, außerdem feiern wir das Extravagante, wir stehen auf Glitzer und Konfetti. Electro Swing greift antike Elemente vom Swing auf, aber inszeniert diese so neu, dass es nicht retro ist, sondern ein vollkommen neues Genre.” Hinter Kallias, die bereits seit fast zwei Jahren den Electro Swing pushen, stehen auch die jungen Wilden, die zwar kein neues Genre erfinden, aber für sich umdeuten: Alle Farben, Egokind oder Shemian sind die Zugpferde. Während das Revolution-Duo eher den Swing und die jazzige Komponenten hochhält, probiert sich die jüngere Generation bei Kallias eher an den Abarten der elektronischen Musik aus.

Ihnen ist gemein, dass sie dem kleinen Boom der Szene keine gesellschaftliche oder wirtschaftspolitische Bedeutung zuschreiben. Die Umstände würden es zulassen: die Weltwirtschaftskrise 1929 erhöhte die Möglichkeit des Exzesses, die Bands mussten ums Überleben kämpfen, da fielen die Partys umso heftiger aus. Anno 2012 gehört Krise fast schon zur deutschen/europäischen Leitkultur, möchte man meinen. Die Gesellschaftsflucht, ein notwendiges Gut, das sich während Krisenzeiten sogar verstärkt zeigt. Wenn Bewährtes ins Straucheln gerät, sucht man nach der Ferne, nach dem Gestern, nach einem Heil – dieses kann in der Musik liegen. Für den Electro Swing hingegen treffe dies nicht zu: “Ich sehe da keine Verbindung, ich glaube das für die Leute die Musik im Vordergrund steht. Die Menschen möchten eine positive Erfahrung haben, ohne es jetzt historisch zu hinterfragen”, ist sich Guddat sicher.

Alle Farben – “Galant” (Egokind Remix)

Don’t call it Jugendbewegung – Electro Swing erfasst jung und alt, da ist es zu einfach, lediglich auf dem Nerv der Zeit rumzureiten, den dieses Genre zu treffen scheint. Die steigende Popularität ihrer Aushängeschilder und verwandten Nachkömmlingen wie Alice Francis widerspricht der These von einem temporären Phänomen. Während für die Älteren sicherlich der Nostalgie-Faktor, das sehnsüchtige Gefühl nach der Oldschool-Music ein großer Anziehungspunkt ist, bleibt die Faszination für die Jugend eher verstreut. Diejenigen, die noch zu jung sind, um in die “richtigen” Clubs zu kommen, genießen das Flair und die kollektive Offerte, die mit einem Ambiente verbunden wird, das Flatrate-Partys und Abschieß-Ritualen gegenübersteht. Nüchtern betrachtet ist der Electro Swing ein weiterer Trend in der Popkultur, wie wir ihn alle paar Jahre beobachten. Er steht in einer Reihe mit vielen Musikrichtungen, die in gewisser Regelmäßigkeit wiederkommen. Swing ist melodisch, keine Melancholiemusik und deswegen sehr gut tanzbar. Es ist kein exklusives Metier, das ist der Schlüssel. Oder wie Chris Tofu in einem Interview anmerkte: “Die Leute stehen auf das Feeling dieser besonderen Jahrzehnte. Aber ganz ehrlich? Die Musik ist einfach der Wahnsinn! Deswegen gehen die Leute so ab.”

Sebastian Weiß 

Die nächsten Veranstaltungen:

04.08. Berlin – Electro Swing Revolution (Astra) 

Sound Nomaden (Münster)
The Carlson Two (Berlin)
Aviv Shwartz (Tel Aviv)
Live Percussion by Cherif Hammiche (Algier)
Residents: DJ Globalution (Johannes Heretsch) & Justin Fidèle (Wolfram Guddat)

16.08. Berlin – Electronic Swing Orchestra Record Release Party (Magdalena) 

DUNKELBUNT
Electronic Swing Orchestra
HYPNOREX (SPORTBRIGADE SPARWASSER)
Neofarius Orchestra #249
Powel (Hans&Gloria)
Naroma (Schlaraffen)
Balinski (Sisyphos)
Jan Pyroman (Kallias)
Señor Pozo (Das Hotel)
Poeks & Schmeckefuchs (Schlaraffen)
ilinx* (Schlaraffen)
Micha von Oben (Schlaraffen)

31.08. Berlin – Electro Swing Club (Festsaal Kreuberg) 

Alice Francis (Live Concert) 
Egokind 
Natanael Megersa
Conscious 
Dukeyduke