Es ist wie überholen ohne einzuholen – das Hamburger Reeperbahnfestival ist der neue Spitzenreiter im Reigen der Musikbranchentreffs. 

„Er ist jung, er hat vorher nur MP3s gesehen!“ Ray Cokes steht vor einem Jungen im Publikum, der eben zugegeben hat, dass er eigentlich gar nicht richtig versteht, worum es in dieser Show im Schmidt Theater auf der Reeperbahn geht. Es ist eine Chance, die sich Cokes nicht entgehen lässt, also holt er aus, ganz langsam spricht er: „Dort drüben auf der Bühne spielen Bands. Und die Musik, die du immer illegal herunterlädst – sie machen sie!“ Der Saal tobt. Es ist „Ray’s Reeperbahn Revue“, der vormalige MTV-Star ist hier tatsächlich noch ein Star, zumindest legt das der Andrang nahe. Es ist ein Publikum, das zumindest zu Teilen wohl tatsächlich noch mit eigenen Augen „Most Wanted“ gesehen hat, jene legendäre Neunziger-Jahre-Show, die Ray Cokes mit bis dato unerreichter Schnoddrigkeit moderierte. Und es ist tatsächlich fast wie in den guten alten MTV-Zeiten; der Moderator redet mit Bands, hält CDs in die Kamera und reißt – das wiederum ist dann eigentlich noch besser als damals – ungehemmt Witze über Kokain und Quickies im Backstage, den Papstbesuch, die Probleme von alten Männern und seine eigene „rubbish“ Show. „Home From Home“ soll der Song heißen, der – neben all den Livebands und dem Drumherum-Quatsch von Cokes – in dieser einen Stunde mit Hilfe eines Songwriterduos und den Textvorschlägen aus dem Publikum entstehen soll. Eine Hommage an Hamburg, das er sichtlich mag und das ihn sowieso ins Herz geschlossen hat. Keinen stört, dass es am Ende nicht ganz klappt, weil im fröhlichen Chaos die Technik nicht mehr mitspielt. Danach strömt alles in eine weitere Nacht des Reeperbahnfestivals.

In den sechs Jahren seines Bestehens hat sich das Festival mitten im Kiez mächtig gemausert. An drei Tagen spielen mehr als 200 Bands in über 50 Clubs. Nahezu alle renommierten Läden der Stadt sind ebenso dabei, wie noch die kleinste Szenekneipe, in der man so etwas wie eine Bühne in die Ecke quetschen kann. Es ist eine Programmdichte, die zwangsläufig Verzicht bedingt, was oft genug schwer fällt, weil die Booker tatsächlich das Kunststück fertig gebracht haben, sehr viele, sehr angesagte Bands quer durch die Stile nach Hamburg zu holen und nebenher auch ein feines Händchen für die noch praktisch unbekannten „Kleinen“ beweisen. Das Schönste dabei: Jede Band wird vom Publikum mit Begeisterung aufgenommen. Es erscheint fast wie ein kleines Wunder, dass das alles nahezu reibungslos klappt, dass alle Läden immer gut besucht sind aber nur selten so überfüllt, dass gar nichts mehr geht. Überhaupt: Die Organisation dieses Reeperbahnfestivals ist auch bei einem genaueren Blick atemberaubend gut. Es gibt nicht die sonst gewohnten Schlangen an den Ticketschaltern und der Zeitplan wird meist eisenhart eingehalten, was ja eine Grundbedingung für das Funktionieren des individuellen Plans ist, um gezielt zwischen den Locations wechseln zu können. Es ist so etwas wie das perfekte Clubfestival. Eines, das Hamburg ganz locker an die Spitze im gerade laufenden Wettbewerb um Aufmerksamkeit und internationales Renommé in der deutschen Musikszene bringt.

„Das Reeperbahn Festival ist jetzt eine Musikveranstaltung von europäischem Rang, die von der internationalen Musikwirtschaft als ,das‘ relevante Gateway in den deutschen Markt wahrgenommen wird.“ Was Detlef Schwarte da breitbrüstig in die Abschlusspressemitteilung diktiert, ist alles andere als zu dick aufgetragen, da sind sich die Branchenbesucher ziemlich einig. 1.900 sollen es gewesen sein, aus ganz Europa sind sie gekommen, man spürt das auch in den Clubs, wo häufig englisch gesprochen wird, bei den zahlreichen Präsentationen der Exportbüros und sowieso bei den Panels im Schmidt Theater. Schwarte ist einer der Verantwortlichen für den „Reeperbahn Campus“, jenen Programmbereich, der Anlaufpunkt für die Musikbranche sein soll. Konzeptioniert ist er ganz klar als Konkurrenz zum Kongress der c/o Pop in Köln sowie der All Together Now und Popkomm in Berlin, denen er auch gleich den Rang abläuft. Nicht unbedingt inhaltlich – aber mit der ganzen geballten Wirkmächtigkeit dieser grundsympathisch im Kiez verwurzelten Liebe zur Musik, die hier an allen Ecken und Enden jederzeit spürbar ist, die das Jammern über die schlechten Zeiten souveräner als die anderen überwunden hat und die ihren Standortvorteil im Nachtleben-Herz Hamburgs voll ausspielt. Es gibt hier kein abstoßend cleanes Messe-Ambiente wie in Köln, kein Metropolen-Moloch verschluckt die Aufmerksamkeit wie im Schwarzen Loch Berlin, dessen eben desaströs gelaufene Popkomm hier sowieso schon jeder abgeschrieben hat.

Der Preis dafür ist hoch, buchstäblich. Nur mit massiven öffentlichen Zuschüssen und potenten Sponsoren lässt sich derlei stemmen. Weil „Kreativwirtschaft“ im Ringen um Standortvorteile derzeit gerade Hochkonjunktur hat, lassen die angestammten Musikstädte Deutschlands die Muskeln spielen und plustern die Etats auf, um solche Events überhaupt zu ermöglichen. Wer – wie die Berliner Messegesellschaft mit der Popkomm – noch versucht, mit einer Popmusik-Branchenveranstaltung Geld zu verdienen, hat die Zeichen der Zeit verkannt. Es ist eine Art antizyklischer Treppenwitz dieser Entwicklung, dass Städte und Bundesländer auf Musikevents setzen, die heutzutage nur noch subventioniert funktionieren können, um ihr Image aufzuwerten. Eindeutig am Besten kalkuliert hat dabei ganz offensichtlich Hamburg, die mit diesem Reeperbahnfestival der Konkurrenz weit enteilt sind, schon deshalb, weil hier bei allem Aufwand und allem Perfektionismus in der Organisation am Wenigsten das Gefühl aufkommt, es müsste vorbei an der Branchen-Realität mit allen Mitteln Größenwahn zelebriert werden. Jeder Veranstalter und Festivalbesucher weiß, dass es diese goldenen Momente gibt, die Jahre, in denen einfach alles zusammenpasst und sogar das Wetter noch mitspielt. Das Reeperbahnfestival 2011 war ein solcher Moment. Der entscheidende Trick ist natürlich, das noch ein paar Jahre beizubehalten.

Augsburg