Eindhoven, 8. Juni 2004
Tim Renner: Eines der ersten Ereignisse, an das ich mich aus meiner Zeit im Musikgeschäft erinnere, war eine Vertriebstagung von PolyGram Deutschland in Timmendorf 1986. Sie waren damals als Weltchef der Philips eingeladen und hielten einen Vortrag über das Potenzial der CD. Sie erwähnten sogar, dass es mit Sicherheit eines Tages eine beschreibbare CD geben würde. Diese damals noch utopisch scheinende technische Möglichkeit, CDs selbst zu brennen, ist jetzt einer der Gründe für die ungeheure Krise der Branche.
Jan Timmer: Ende der Siebziger gab es schon einmal eine ernste Krise.
In der Zeit des Übergangs von Vinyl zur CD…
Es gab zwei Platten, die damals immens erfolgreich waren, “Saturday Night Fever” und “Grease”. Sie wurden in Amerika in enormen Stückzahlen produziert. Und dann, ganz plötzlich, fingen die Händler an, die Platten zurückzuschicken. Das war der Anfang der großen Krise von 1979/80. Die Musikindustrie wurde zum ersten Mal mit der Tatsache konfrontiert, dass die Verkaufszahlen nicht für immer ansteigen würden. Gott sei Dank, kam dann die CD. Heute sind wir erneut mit einem Problem konfrontiert.
Die Situation war ähnlich. Es ist überraschend: Wenn man sich mit der Vergangenheit befasst, erfährt man, dass die meisten Major-Companies mit der CD zunächst nichts zu tun haben wollten. Eigentlich sollte man doch erwarten dass jemand, der mit einem Format wie Vinyl Probleme hat, einer neuen Entwicklung offen und begeistert gegenüber steht.
Ich habe eine Rede gehalten, kurz nachdem ich von Philips an die Spitze von PolyGram gewechselt war. Das muss Anfang 1982 gewesen sein. Da war diese große Tagung des “Billboard”-Magazins in Athen. Alle Verantwortlichen aus der Musikbranche waren da und wir stellten ihnen die Compact Disc vor. Das grundlegende Desinteresse an technologischen Entwicklungen, die um ihre eigene Branche herum stattfanden, konnte man daran ablesen, dass die meisten der Spitzenmanager aus der Musikindustrie zum ersten Mal mit dem Phänomen CD konfrontiert waren – und mehr als gelangweilt reagierten. Diese Gleichgültigkeit ist doch erschreckend.
Ich war dort und auch Norio Ohga, der damalige Präsident von Sony. Philips hat die Einführung der CD ja zusammen mit Sony gemacht und in Japan auch mit der CBS. Es gab Meinungsverschiedenheiten zwischen CBS weltweit und CBS Japan. In Japan war Sony damals Miteigentümer von CBS. Fünfzig Prozent haben ihnen gehört. Aus diesem Grund hat Sony auf CBS großen Druck ausgeübt, bei der Einführung der CD zu kooperieren. Doch CBS in New York hat sich geweigert. Der damalige CBS-Präsident Walter Yetnikoff, war ganz entschieden dagegen. Aber Sony konnte sich durchsetzen – durch den Druck, den sie über die Beteiligung an CBS Japan aufbauen konnten. Das sollte bei der globalen Durchsetzung helfen. Aber es war nicht genug.
Wir waren überzeugt, dass die Compact Disc, wenn sie ein Erfolg werden sollte, zunächst das Segment der klassischen Musik erobern müsste. Dafür gab es eine Reihe von Gründen. Konsumenten klassischer Musik würden eine hervorragende Klangqualität ganz besonderes schätzen. Zudem hatten einige Labels wie Decca, Deutsche Grammophon oder Philips bereits ein Archiv mit digitalen Aufnahmen, bevor es überhaupt einen digitalen Tonträger gab. Das waren Aufnahmen, die besser waren, als Vinyl es je würde wiedergeben können. Diese Aufnahmen waren die ersten, die man aus dem Schrank nahm und auf CD presste.
Die Klassik wurde zu einer Art trojanischem Pferd für die CD, das den Musikmarkt von innen erobern sollte. Darum sind wir auf Herbert von Karajan zugegangen. Ich erinnere mich an eine Vorstellung der Compact Disc für Karajan im Hotel “Vier Jahreszeiten” in Hamburg. Er war ein Technikfreak. Ich habe sein … ja, musikalisches Labor kann man das schon nennen, in seinem Haus in Salzburg einige Male besucht. Er war nicht nur Dirigent, sondern ein Mann mit einem großen Verständnis und einer ausgeprägten Liebe für alles Technische. Er hat die Wichtigkeit der CD von Anfang an verstanden. Er war einer der ersten, der begriff, dass dies ein Durchbruch war für die Art und Weise, wie Menschen Musik hören, ja erleben würden. Sein großer Enthusiasmus half. Was auch half: dass PolyGram für ihn ein Studio in Hannover eingerichtet hatte. Hannover war auch der Standort der ersten Compact-Disc-Fabrik in Europa. Die andere war in Japan. Anfangs gab es nur zwei.
Glücklicherweise gehörte PolyGram damals noch zu Philips. So konnten wir die Software nutzen, um das System voranzubringen. Eine Vorgehensweise, zu der auch später immer wieder geraten wurde. Eine Menge Übernahmen und Merger basieren auf dieser Grundlage. Aber wenn man es sich einmal genauer ansieht, merkt man, dass dieser ganze Synergie-Gedanke, dieses Fusionieren von Software und Hardware nur selten von Erfolg gekrönt ist. Man kann sich fragen, welchen Vorteil Sony daraus zieht, ein Film-Unternehmen zu besitzen… Damals aber war es ein Glücksfall, dass das Hardware-Unternehmen, dass das System erfunden hatte, ein Software-Unternehmen besaß, das den größten Katalog klassischer Musik in der ganzen Welt sein Eigen nannte. Das war nicht von langer Hand geplant. Das war einfach nur Glück. Wir sagten uns, daraus müssen wir einen Vorteil ziehen.
Aber auch in der Popmusik gab es einige Leute, die enorm interessiert waren. Peter Gabriel begeisterte sich sehr für die Compact Disc. Auch Mark Knopfler von den Dire Straits war einer der ersten, der sich zu dem neuen System bekannte. Wir hatten eine Reihe Botschafter, die sehr daran glaubten. Aber Sie haben recht, der Musikindustrie fehlte die Vision, dass dies das Medium war, das die Branche wieder nach vorne bringen würde.
Aber wie kann das sein? Man befand sich in einer Krise…
Der Punkt ist, weder die Musikindustrie noch die Filmindustrie beschäftigen besonders visionäre Persönlichkeiten. Tatsächlich sind das sehr traditionell denkende Menschen. Sie sagen, sie unterscheiden sich von normalen Managern und das stimmt auch. Da kommt natürlich ein, nun ja, künstlerisches Element zum Management dazu. Es ist das Management von Kreativität, wenn Sie so wollen. Aber diese kreative Seite wird überbetont. Ich komme noch mal auf dieses berühmte “Billboard”-Meeting in Athen zurück, wo wir das Medium CD vorstellten. Nicht genug, dass die Musikmanager an einer derartig bedeutsamen Innovation desinteressiert waren – mehr noch, sie waren feindselig. Wenn es da faule Tomaten gegeben hätte, sie hätten sie bestimmt nach mir geworfen.
Die schlichte Argumentation war: “Wir brauchen diese ganze Technologie nicht. In der Musikindustrie geht es nicht um Technologie. Es geht um Inhalte. Es ist der Groove, der zählt.” Das haben sie mir zugerufen. Und weil ich von Philips zur PolyGram gekommen war, schrieen sie noch lauter, weil ich in deren Augen einer der Typen war, die … na ja, ich war eine Art Spion, der von Philips geschickt wurde, um der Musikindustrie diese fürchterliche Compact Disc zu bringen. So war die Atmosphäre dort. Einer der ganz kniffeligen Punkte war das Thema Lizenzgebühren. Philips und Sony hielten es für ganz normal, dass sie für diese glänzende Erfindung namens CD eine Nutzungsgebühr erhalten sollten. Sie waren auch überzeugt, dass – ausgehend von dem Potenzial des Mediums – der Umfang der Lizenzgebühren in Höhe von 3 Dollarcent vergleichsweise bescheiden sei. Aber die Musikindustrie weigerte sich, über Lizenzgebühren auch nur nachzudenken. Sie gingen sogar soweit, zu sagen: Wenn Ihr unbedingt wollt, dass wir mitmachen, müsstet eigentlich Ihr uns Lizenzgebühren bezahlen. Weil Ihr uns braucht. Die Musikmanager hatten das Gefühl, wenn sie sich nur ablehnend genug verhalten würden, würde es ihnen gelingen, die Einführung der Compact Disc zu verhindern. Ich erinnere mich, dass die EMI der CD gegenüber besonders feindlich eingestellt war. Sie warteten solange es nur ging, bis sie schließlich doch mitmachten.
Manche brauchten Jahre um zu begreifen, dass es da einen neuen Träger, ein neues Medium gab. Die Argumente waren immergleich: Wir brauchen keine Technologie, es ist der Groove, der zählt. Wir wollen Euch keine Lizenzgebühren bezahlen, Philips, sondern ihr sollt bitteschön uns Lizenzgebühren bezahlen. Der dritte Punkt war: Wir haben bereits ein Home-Copying-Problem mit Cassetten und Ihr werdet es nur verstärken, wenn Ihr jetzt die perfekte Vorlage, “the perfect master”, wie sie es nannten, auf den Markt bringt. Mit dieser perfekten Vorlage wird Home-Copying selbstverständlich völlig außer Kontrolle geraten. Das waren ihre drei Hauptargumente.
Wir haben weitergemacht, wir haben daran geglaubt, wir haben das Produkt an ihnen vorbei in die Öffentlichkeit gebracht. Wir waren auf Audio-Messen auf der ganzen Welt, in Amerika, Las Vegas, Osaka, Tokio, Amsterdam, Berlin … überall. Wir haben Vorführungen abgehalten. Wir haben gemerkt, dass die Demonstration der CD enorm wichtig war, um die Menschen zu überzeugen. Wir hatten sogar ein Handbuch dafür herausgebracht, weil wir so viele katastrophale Demonstrationen gesehen haben. Also musste ein Handbuch her. Wir sagten, hier sind also die zehn besten Platten der Welt und jetzt spielen Sie doch einmal von dieser Platte Titel Nummer 5. Und von dem anderen Album spielen Sie diesen Titel. Und das ganze dann auch noch in einer bestimmten Reihenfolge. Natürlich waren die Titel nach dramaturgischen Gesichtspunkten ausgesucht, unter anderem auch, um schlicht und ergreifend Stille zu demonstrieren. Die absolute Stille war ein wichtiges Verkaufsargument der CD. Wenn sie still ist, ist es wirklich still. Das ist natürlich wiederum besonders für die Klassik interessant. So haben wir das Produkt in die Öffentlichkeit gebracht:
Wir haben es vorgeführt, wir hatten Botschafter, Dirigenten, bekannte Künstler die das Produkt gut hießen und darüber sprachen. Auf diese Weise erhöhten wir den Druck auf die Industrie. Es brauchte aber mehrere Jahre, bis die Industrie begriff, dass dies der Faktor war, der die Branche wiederbeleben könnte. Am Anfang der 80er war die Industrie in einer sehr angespannten Lage. Fast alle Unternehmen schrieben rote Zahlen. Es dauerte lange, bis sie begriffen. Rückblickend war unsere Überzeugungs-Strategie genau richtig. Wir bearbeiteten manche Firmen intensiver als andere, das hatte auch mit den persönlichen Beziehungen zu tun. Nach und nach sind sie alle umgefallen und haben die Compact Disc angenommen. Weil die Renditen stimmten und aus roten wieder schwarze Zahlen wurden.
Ein besonderer Aspekt bei der Einführung der CD war auch die Verpackung. Es gab Riesendiskussionen darüber, wie die Verpackung aussehen sollte. Die Öffentlichkeit war diese wunderbaren großformatigen Fotografien auf den LPs gewohnt. Das wurde als Verkaufsargument betrachtet. Berühmte, weltberühmte Fotografen machten die Fotos für diese Cover. Einige dieser Cover waren Kunstwerke. Ich habe Ausstellungen gesehen. Wunderschön. Man könnte ein großes europäisches Museum damit füllen. Doch das Cover der CD war deutlich kleiner – das war ein Problem. Von Teilen der Industrie kam der Vorschlag, als Verpackung Papier zu nehmen. Doch dann wäre die CD nicht genügend geschützt gewesen vor Wölbung. Wenn die CD gebogen wurde, bestand die Gefahr, dass der Laser die Information auf der Scheibe nicht lesen konnte. Die Techniker betonten das sehr. Die CD musste in der Mitte der Packung also stabil fixiert werden. Wir würden eine solidere Verpackung benötigen, als wir sie bisher von der Single und der LP kannten. Aber wir wollten auf der anderen Seite auch dieses Wölbungsproblem nicht zu sehr betonen, das wäre zu negativ gewesen. Wir wollten ein positiv motiviertes Verpackungskonzept finden. Wir hatten ein hochwertiges Qualitätsprodukt. Und ein Qualitätsprodukt braucht eine hochwertige Verpackung. Die Menschen müssen stolz darauf sein, dass sie dieses neue Produkt besitzen. Es muss etwas Besonderes sein. Es muss anders sein als das, was sie kennen. Es muss nach Innovation aussehen.
Es gab eine Reihe von Entwürfen. Vier oder fünf. Und gemeinsam mit Hans Gout, der damals der Compact-Disc-Guru war, entschied ich mich für das, was wir heute als Jewel Box kennen. Eine schöne Idee mit einem schönen Namen. Jewel Box steht für Klasse.
Dennoch: auch die Jewel Box brachte zwei Probleme mit sich. Der eine war der Preis. Da ließ sich damals kaum etwas machen. Aber wir argumentierten natürlich, wenn wir höhere Stückzahlen produzieren könnten, der Preis nach unten gehen würde. Das war eine simple ökonomische Rechnung. Das andere Problem lag in der Handhabung. Wir stellten fest, dass einige Leute ein Problem beim Öffnen der Jewel Box hatten. Doch auch hier schafften wir es, den Nachteil in einen Vorteil umzukehren. Das Negative zum Positiven zu machen. Wir demonstrierten immer wieder, wie man die Hülle öffnen sollte: “Sehen Sie, so einfach ist das.” Wir wollten in den Leuten den Stolz darüber wecken, dass sie die Hülle öffnen können und ihrem Nachbarn zeigen können, wie es funktioniert. Es ist wirklich sehr leicht. Also wurde der Nachteil zum Vorteil. Dazu gibt es auch noch eine nette Geschichte. Ganz am Anfang der Einführung besuchte ich eine Audio-Messe in Japan. Jede Hardware-Firma hatte einen Stand, wo sie CDs vorstellte. Sie hatten Universitäts-Professoren engagiert um einen seriösen Eindruck auf die japanischen Kunden zu machen. Man wollte das ganz wissenschaftlich aufziehen; darum die Professoren. Ich war im gleichen Raum mit einem Übersetzer und ich war der einzige Nicht-Japaner. Und der Professor sagte: “Sie sind sehr klug, die Designer dieser Hüllen.” Und er machte vor, wie man die Hülle öffnen sollte. Nun, japanische Hände sind kleiner als unsere. Wir machen das also, indem wir am Rand mit Daumen und Mittelfinger den Rand umfassen und den Deckel hochheben. Japaner haben aber im Durchschnitt kleinere Hände und hatten Schwierigkeiten die CD zu umfassen. Also hielt er das Ding auf seiner Hand, er konnte die Finger nicht darum legen. Er sagte: Wenn Sie von oben auf diesen Rand drücken, dann öffnet sich das. Und ich saß da und sagte zu mir: Das ist absolut grossartig … denn daran hatten wir noch gar nicht gedacht! Und es ist wahr, probieren Sie es. Drücken Sie oben auf den Deckel. Er öffnet sich. Das war also der japanische Weg. Und so funktionierte es auch. Also haben wir das in unsere Demonstrationen mit aufgenommen. Diese Verpackung wurde also ein Verkaufsargument, ein Marketing-Gimmick. Es gab von Anfang an zahlreiche Versuche, die Verpackung durch eine andere zu ersetzen. Aber bis heute wurde keine bessere Verpackung gefunden. Das ist die Verpackung, für die wir uns damals entschieden haben. Und wir haben den augenscheinlichen Nachteil in einen Vorteil verwandelt.
Ein weiteres Problem entstand in den USA: die amerikanischen Händler, die auch nicht mit besonderem Weitblick ausgestattet waren, kamen mit dem Einwand, dass sie wegen der neuen Größe die etablierten LP-Regale in ihren Läden ersetzen müssten, und das war ihnen zu teuer. Was taten sie also? Sie nahmen ein Stück Pappkarton von der Größe einer LP und befestigten die Compact Disc darauf. Nirgendwo sonst auf der Welt taten sie das. Nicht in Japan und auch nicht in Europa. Doch in den USA klebten sie die CD auf einen hässlichen Pappkarton…
Ein weiteres Gegenargument der Händler: die CD sei zu klein und würde dadurch zum Diebstahl verleiten. Ich war bei diesen großen Treffen der amerikanischen Einzelhändler. Riesenversammlungen. Ich habe versucht, sie zu überzeugen. Aber das war schwer. Sie nutzten also ihre Macht als Händler und zwangen die Industrie, einen Haufen Papier zu verschwenden, indem die CD auf Pappkartons geklebt und dann eingeschweisst wurde. Nicht besonders umweltfreundlich. Eine Verschwendung von Papier und Plastik. Man warf das ja weg. Niemand hob das auf. Es war nur eine Anti-Diebstahl-Vorrichtung.
So mussten wir also eine Hürde nach der anderen überwinden. Von allen möglichen Seiten legte man uns Steine in den Weg. Ein interessantes Kapitel war auch die Frage, ob man einen Kopierschutz in die CD einarbeiten sollte. Endlose Diskussionen, endlose Meetings. Natürlich gab es einige technische Lösungen, die in Frage kamen. Aber alles, was auf Chip-Technologie basiert, kann geknackt werden. Computerhacker beweisen das immer wieder. Dieser ganze Streit, dass man das Copyright schützen und darum an der CD herumdoktern müsste, war fürchterlich. Ich erinnere mich an ein Meeting in Vancouver, wo sich die Musikindustrie versammelt hatte und wo Walter Yetnikoff sich wieder einmal sehr destruktiv verhielt. Da flogen Gegenstände durch den Raum, die Stimmung war aufgeheizt. Ich war der Meinung, dass die Diskussion falsch sei. Dass man am Ende doch sowieso jeden technischen Schutz irgendwie knacken könne. Ich sagte, ihr konzentriert Euch auf einen völlig falschen Aspekt. Der richtige Ansatz wäre, dass man das Produkt attraktiv machen und schnell auf den Markt bringen muss, um an den Besitzerstolz der Leute zu appellieren. Die Leute brauchen diesen Besitzerstolz. Ich habe das tausendmal gesagt. Führt nicht diese negativen, destruktiven Diskussionen. Präsentiert das Produkt auf möglichst attraktive Weise – das ist Marketing.
Ich erinnere mich, in den Anfangszeiten der Compact Disc saß ich in einem Plattenladen am Sunset Boulevard in Hollywood. Da saß ich hinten im Laden, an einem Samstag war das, und schaute zu, was passierte. Da war dieser Riesenverkaufsstand mit LPs und ein paar wenige Regale mit CDs. Es war bemerkenswert, was dort passierte. Es kamen Leute herein, die sich große Plastiktüten geben ließen. Sie gingen an den CD-Regalen entlang und nahmen sich von jeder ausgestellten CD eine. Das waren die Vorreiter, die Trendsetter. Sehr wichtig, wenn man einen Marketingkampf gewinnen will. Die meisten waren Klassik-Fans, die bereits diverse Versionen von Beethovens Symphonien, dirigiert von zehn oder zwölf verschiedenen Dirigenten, besaßen. Aber sie wollten unbedingt wissen, wie ihr Beethoven auf CD klang. Und dann ging es los.
Die frühen CD-Fans waren absolut enthusiastisch hinsichtlich des Klangerlebnisses. Die Kampagnen gegen die CD haben dennoch bis heute nicht aufgehört. Es gibt immer irgendwo eine komische Person, die Artikel darüber schreibt, dass die LP viel besser klingt. Dass ist wie wenn man sagt, es ist viel netter, mit einer Propellermaschine zu fliegen als mit einem Düsenflugzeug. Letztendlich zeigen diese ganzen Kämpfe aber nur, wie emotional die Menschen werden, wenn es um Musik geht. Und deshalb haben wir berechtigterweise unser Marketing an Emotionen orientiert. Darum habe ich mir diese Besitzerstolz-Idee überlegt: Du solltest stolz darauf sein, eine CD zu haben. Die Geschichte der CD enthält einige höchst interessante Aspekte, was das Marketing betrifft. Es ist das faszinierendste Projekt, mit dem ich mich in meiner gesamten Laufbahn beschäftigt habe. Als der entscheidende Durchbruch der CD da war, konnte man beobachten wie die LP aus den Regalen verschwand und Tag für Tag, Woche für Woche mit mehr CDs ersetzt wurde. Wundervoll!
Entscheidend für die Durchsetzung der CD war natürlich, dass es gelungen ist, einen weltweiten Standard zu entwickeln. Es gab ein konkurrierendes Klangsystem. Das kam von JVC, den Erfindern des VHS-Systems. Sie hatten sich damals, bei der Einführung von Video, durchgesetzt gegenüber Sony mit Beta und Philips mit Video 2000. Doch diese Video-Kämpfe waren extrem destruktiv und sehr teuer für alle gewesen.
JVC hatte ein paar Jahre später eine Audio-Version von VHD, der digitalen Video-Version, entwickelt und das Ganze AHD genannt. Sie hielten eine ganze Weile durch. Irgendwann entschied ich mich, Gespräch zu führen. Ich kannte den Aufsichtsratsvorsitzenden von JVC. Ein älterer Herr. Er muss damals schon über fünfundsiebzig gewesen sein. Wir kannten uns gut, seit Jahren. Seine Ingenieure versuchten ihm einzureden: Vergiss die Compact Disc. Ich war gekommen ihn zu überzeugen, bei unserem System zu unterschreiben. Erstaunlicherweise gelang es mir zuvor, das JVC-Mutter-Unternehmen Matsushita zu überzeugen. JVC sah sich immer als der Innovations-Motor im Matsushita-Umfeld. Deswegen fiel es ihnen schwer, sich auf ein konkurrierendes System von Philips einzulassen. Doch die Unterstützung von JVC war wichtig für uns.
Ich erinnere mich gut an diesen Tag, an dem ich nach Tokio kam. Ganz un-japanisch schickte er fast alle Anwesenden aus dem Raum und sagte: Ich möchte Ihnen etwas mitteilen. Ich habe mich entschieden, dass wir bei Compact Disc mitmachen werden. Sie sind der Erste, der es erfährt. Warum er sich so entschieden hat, weiss ich bis heute nicht wirklich. Danach ging alles ganz schnell und wir hatten das Konkurrenzsystem von JVC geschlagen. So führten unzählige kleine Schritte zum globalen Standard Compact Disc.
Jede verkaufte CD ist ein Master, eine perfekte Vorlage. Das hat sich für die Musikindustrie seit Einführung der CD-R zu einem grossen Problem entwickelt. Per CD-Brenner kann jedermann einen Klon der CD erstellen…
Als Philips-Präsident habe ich Reden vor der Plattenindustrie gehalten. Ich habe ihnen gesagt, diese Vogel-Strauß-Taktik, einfach den Kopf in den Sand zu stecken, ist ein großer Fehler. Wieder nur zu sagen “Der Groove macht die Musik aus”. Ich sagte, ihr müsst erahnen, was passiert und vorbereitet sein. Die Recordable CD wird kommen. Das selbstaufgenommene Produkt wird dem Original in der Klangqualität ebenbürtig sein. Man kann sogar seine eigenen Cover machen, mit diesen hübschen Computerprogrammen. Meine Enkeltöchter machen das.
Doch aus den grössten Verweigerern wurden nach wenigen Jahren die energischsten Verfechter der CD. Sie wollten von einer Bedrohung ihrer Cashcow nichts wissen. Sie machten einen Haufen Geld, nicht unbedingt mit neuen Aufnahmen, aber indem sie den Katalog noch einmal ausbeuteten. Bei dreissig Prozent Rendite freute man sich und wollte das neue Glück mit der CD geniessen.
Da wurde ich dann plötzlich “Recordman of the Decade” und Gott weiß, was noch alles. Mit solchen Titeln ist die Plattenindustrie notfalls schnell bei der Hand. Ich bekam also am Schluss doch noch die Anerkennung und sie sagten: du hattest recht und wir lagen falsch.
Doch zum gleichen Zeitpunkt hörten sie wieder nicht zu – als ich nämlich das Ende der traumhaften Zeit ankündigte.
Haben die Einnahmen, die Philips mit der CD hatte, den gestellten Erwartungen entsprochen?
Das wird man nie so genau wissen. Es ist unmöglich, darüber Buch zu führen, wie viel man in diesen Jahrzehnten der Entwicklung ausgegeben hat. Man schreibt es ab und vergisst es. Es kam auf jeden Fall ein nettes Sümmchen Geld herein. Doch gleichzeitig warnte ich die Beteiligten, dass das nicht für immer so weiter gehen würde. Es würden neue Entwicklungen kommen wie die Recordable Disc, die Explosion des Internet, Musik würde ganz einfach ins Haus geliefert werden. Und es wird nicht möglich sein, diese Entwicklung aufzuhalten. Das war auch bei der Compact Disc nicht möglich. Ihr müsst euch wappnen, vor allem was das Copyright angeht. Das Problem ist, dass die Gesetzgebung beim Thema Copyright, wie bei den meisten gesellschaftlichen und technologischen Themen, der Entwicklung hinterherhinkt. Alle Gesetze in allen Ländern der Welt hinken hinterher. Sie beschreiben eine vergangene Situation.
Sie können nur reagieren.
Ganz genau. Und die Copyright-Gesetze sind nicht darauf ausgelegt, mit dieser rasanten technologischen Entwicklung mitzuhalten. Ich sagte: Ihr müsst etwas tun. Ihr müsst vorausahnen, was passieren wird. Ihr müsst euer Einkommen sichern. Ihr dürft diese Entwicklung nicht bekämpfen, aber ihr müsst dafür sorgen, dass ihr euren Anteil bekommt.
Was genau hätte die Musikindustrie tun sollen? Sich rechtzeitig darum kümmern, dass neue Copyright-Gesetze entstehen? Sicherstellen, dass das Kopieren von Musik verboten wird?
Es gab diese öffentliche Debatte. Hat der Konsument das Recht, Musik zu kopieren? Es gab Interessengruppen, die sich sehr stark dafür einsetzten und auf Audio-Messen mit ihren Stickern herumliefen. Es gab eine Lobby. Sie sprachen sich dafür aus, dass das Kopieren von Musik eine Art Menschenrecht sei. Sie waren sehr durchsetzungsstark und sehr laut. Und die Regierungen stehen unter dem Einfluss dieser Leute, weil das Wähler sind. Die leitenden Angestellten der Plattenfirmen, die ihnen Diebstahl vorwarfen und darauf bestanden, dass dies eine Verletzung der Copyright-Gesetze war, waren diesen Aktivisten zahlenmäßig bei weitem unterlegen. Die Sympathien der Öffentlichkeit waren auf der Seite der Musikkopierer-Lobby und nicht bei der Musikindustrie.
Und die Musikindustrie hatte noch ein weiteres Problem: die Künstler. Nur wenige standen wirklich hinter einem entschiedenen Kurs der Plattenindustrie. Einige der Künstler zeigten ganz deutlich, dass sie durchaus Sympathien hatten für die Leute, die ihre Musik kopierten. Ich beobachte da außerdem ein wiedererwachendes Interesse der Künstler am Touren. Ich denke, das ist für die Künstler ein Weg, verlorenes Einkommen zu kompensieren. Es gab Zeiten, da waren sie so wenig auf Tour wie nur irgendwie möglich. Das Einkommen aus den dicken Verträgen war mehr als ordentlich. Viele Künstler fühlen sich zwischen zwei Standpunkten hin und her gerissen. Auf der einen Seite, erkennen sie, dass wenn die Plattenfirmen nicht genug Platten verkaufen, das auch ihr Einkommen betrifft. Auf der anderen Seiten wollen sie sich nicht unbeliebt machen, indem sie eine unversöhnlich ablehnende Haltung gegenüber Home-Copying einnehmen. Das ist der gesellschaftliche Aspekt.
So, wie es derzeit aussieht, könnte man meinen, dass es der Musikindustrie nie wieder gelingen wird, ähnlich erfolgreich zu arbeiten wie in den 90ern. Vielleicht hat die Technologie die Plattenindustrie überholt, vielleicht braucht man Plattenfirmen in Zukunft einfach nicht mehr. Meine früheren Freunde in der Plattenindustrie werden es nicht mögen, wenn ich das sage, aber dies könnte ein Fall sein, in dem der technologische Fortschritt eine bestimmte Organisationsform beinahe gänzlich überflüssig macht. Wenn die Öffentlichkeit nach wie vor bereit ist, zu bezahlen, dann brauchst du als Künstler in Zukunft nicht mehr als einen ordentlichen Computer und eine Organisation, die sicherstellt, dass du dein Geld bekommst wenn jemand deine Musik herunterlädt. Alles hängt davon ab, wie einfach ein solches System funktionieren wird. Technischer Fortschritt, warum nicht?
Ich meine, der Platz, den der Computer heute in einem Zuhause einnimmt, ist so beherrschend. Warum sollte man sich mit irgendetwas herumärgern, dass man ganz einfach an seinem Schreibtisch bekommen kann? Man muss keine Zeitung mehr kaufen, man kann sie sich herunterladen. Man muss nicht mehr ins Kino gehen. Vor ein paar Wochen war ich in China und die Jungs dort auf der Straße verkaufen einem Filme, die in Europa noch nicht einmal veröffentlicht worden sind. Man kann sie auf den Straßen von Shanghai und Peking kaufen. Völlig ungeachtet des Copyrights. Die großen Fragen lauten also: Kann die Plattenindustrie, wie wir sie kennen, überleben? Vielleicht muss man hier noch einmal unterscheiden zwischen klassischer Musik und Popmusik. Können die Plattenläden überleben? Wird es in Zukunft einen physikalischen Tonträger geben, wie wir ihn seit Erfindung des Grammophons immer hatten? Das sind existenzielle Fragen.
Mein Gegenargument ist: wir lesen immer noch Zeitung. In England offenbart die Zeitung, die du liest, deinen sozialen Status. Wie soll das in Zukunft möglich sein, wenn wir alle nur noch Computerausdrucke benutzen? An deinem Computerausdruck kann ich nicht erkennen, wo du stehst. Man kann sich auch Bücher aus dem Internet herunterladen. Aber es gibt immer noch Buchhändler.
Der Plattenladen befriedigt ein bestimmtes soziales Bedürfnis für die Menschen. Das ist ein Ort, an dem du Zeit verbringst, dich umschaust, vielleicht als Teil deines Aufenthalts im Einkaufszentrum. Und hinterher gehst du einen Hamburger essen. Am Computer sitzt man ganz alleine. Der Kaufvorgang ist vielleicht einfacher. Aber er macht weniger Spass. Hier liegt die einzige Überlebenschance. Der Ort, an dem sich das physikalische Produkt befindet, muss so attraktiv sein, dass die Leute gerne hingehen. Ziehen Sie den Vergleich mit dem Kino: man entwickelte Systeme, wie man Filme nach Hause liefern kann. “Films on Demand” und solche Ansätze haben sich bisher aber nicht durchgesetzt. Der riesige Erfolg der DVD unterstützt nur, was ich sage. Es ist ein Ding, das man zeigen kann. Wenn ich in London bin und durch die Läden bummle, das ist nicht das gleiche wie zu Hause vor dem Computer zu sitzen.
Auf der einen Seite sage ich, es besteht die Gefahr, dass die bekannten Strukturen der Entertainment-Wirtschaft nicht überleben werden. Aber gleichzeitig sage ich: ich bin mir da nicht so sicher. Andere Dinge, die längst hätten verschwinden müssen, weil es billigere und effizientere Möglichkeiten gibt, existieren immer noch.
Sie hätten mir für dieses Interview auch vorschlagen können: machen wir eine Videokonferenz. Aber Sie sind hier in Eindhoven und wir sitzen uns gegenüber.
Ich bin Mitglied in einigen Aufsichtsräten und Ausschüssen und gelegentlich machen wir diese Videokonferenzen. Nun, ich möchte das nur im Notfall machen. Weil es nicht das gleiche ist. Wir hatten schon Videokonferenzen mit Shanghai, aber man bekommt nicht mit, wie es wirklich in Shanghai ist, wenn man nicht dort ist.
Wird die Plattenindustrie sich neu erfinden? Das ist die große Frage. Anfang der 80er hat sie sich schon einmal neu erfunden. Trotz aller Bedenken und trotz der Möglichkeit, Musik zu kopieren und all dem. Es ist einmal gelungen. Kann es wieder gelingen? Es sieht nicht sehr rosig aus, weil sie zugelassen hat, dass sich neue Systemkonflikte entwickeln. Zwischen unterschiedlichen Download-Plattformen, unterschiedlichen Playern, unterschiedlichem DRM.
Mit der Compact Kassette gab es keine Konflikte, weil wir sie bei Philips erfunden haben und allen kostenlos zugänglich gemacht haben. Bei der Compact Disc passierte es nicht, aus den Gründen, die ich bereits dargelegt habe. Aber mit VCR ist es passiert und jetzt passiert es wieder. Jetzt gibt es blödsinnige Streitereien zwischen unterschiedlichen Lagern über technische Details, die am wahren Interesse des Konsumenten vorbeigehen. Wir haben bei der Einführung der CD nie über Bits und so etwas geredet. Wir haben die Compact Disc nie auf der Grundlage der Technologie verkauft. Wir haben sie auf der Grundlage verkauft von “Sieh dir an, wie schön das aussieht. Fühle es. Höre selbst.” Wer kann schon diese hochspeziellen Eigenschaften unterscheiden? Nicht viele. Der Durchschnittskunde kauft Emotionen. Hat es mit Gefühlen zu tun, wenn man Musik aus dem Internet herunterlädt? In deinem Büro, in deinem Arbeitszimmer? Ohne jemanden dabei, mit dem du es teilen kannst? Das ist die Frage. Vielleicht ist es noch nicht zu spät.
Um noch einmal auf Ihre Vergangenheit bei Philips zurückzukommen – was ist bei der versuchten Einführung der Digital Compact Cassette, der DCC, schief gegangen? Warum sind Sie nicht, wie bei der CD erfolgreich praktiziert, mit Sony zusammengegangen?
Wir haben versucht, die DCC als zusätzlichen Träger zur CD einzuführen. Unsere Überlegung war: je mehr Träger, umso mehr Geschäfte kann auch die Musikindustrie damit machen. Viele Menschen waren mit der Kassette vertraut. Wir sagten, wenn wir eine bessere Kassette entwickeln können, eine digitale Kassette, könnte es daran großes Interesse geben. Doch Sony wollte dieses Mal nicht mit uns zusammen arbeiten und alleine konnte es uns nicht gelingen. Man muss, vor allem als europäische Firma, darauf achten, dass man ein oder zwei große Partner in der Musikindustrie hat, die mitziehen. Und Sony wollte nicht. Denn Sie dürfen nicht vergessen, Sony hatte den Walkman. Es war gegen das damalige strategische Interesse des Konzerns, hier mitzuziehen.
Warum ist es nicht gelungen, jemand anderes an Bord zu holen, zum Beispiel Matsushita?
Auch hier gab es konkurrierende Systeme. Ingenieure waren beteiligt. Niemand sprach sich für unsere DCC aus. Sie hatten Sorgen, dass wir die einzigen wären, die davon profitieren würden. Also schlugen sie Änderungen vor. Das ist dann alles im Sande verlaufen. Auch das passiert manchmal. Die Kassette war sehr nützlich gewesen, weil sie Musik zum erstenmal mobil gemacht hatte. Mit der Einführung der CD und später dann auch tragbarer CD-Spieler wurde dann auch die CD mobil. Also waren Kassetten plötzlich nicht mehr so wichtig. So überflügelt eine Technologie mitunter die andere.
Innerhalb der PolyGram gab es ein Gerücht: Jan Timmer besteht auf das neue Cassetten-Format, weil er mit einem Erfolg der DCC hofft, die Erfindung und Verbreitung des CD-Brenners stoppen zu können. Sie wollten nicht, dass Philips sich an CD-Brennern beteiligt, um die Musiksparte PolyGram zu schützen.
Ich fand es bei Philips ungünstig, dass ein Unternehmen gleichzeitig Software und Hardware-Interessen vertritt. Bei der Compact Disc war das ein Vorteil gewesen. Aber in dem Moment, in dem man von Rewritables oder Recordables spricht, gerät man in einen Konflikt mit der Software, dem Content. Also habe ich bei Rewritables und Recordables immer die Bremse angezogen. Ich wusste, es würde passieren. Aber ich fand, es war eine Frage des richtigen Timings. Man fing zu früh an, darüber zu sprechen. Wir hätten der Compact Disc erst einmal noch mehr Zeit lassen sollen. Ich war in einem Zwiespalt. Der andere Gedanke war: Wenn es da draußen immer noch Leute gibt, die die Kassette mögen, dann geben wir ihnen eine bessere Kassette. In einer konzertierten Aktion wäre das vielleicht gelungen. Aber es war eben nicht so.
Für mich gab es 1996 einen interessanten Moment. Da war eine PolyGram-Konferenz in Honkong im Grand Hyatt Hotel. Sie waren dort mit Cor Boonstra. Es gab Gerüchte, dass Philips PolyGram verkaufen würde und Cor Boonstra sagte: Glaubt mir Freunde, es gibt keine derartigen Pläne. Später erfuhren wir, dass er zu diesem Zeitpunkt bereits Gespräche aufgenommen hatte, um PolyGram zu verkaufen. Wussten Sie davon? Hat Boonstra in diesem Moment einfach gelogen?
Ich weiß es nicht. Da müssen Sie ihn schon selbst fragen. Der Punkt ist, dass große multinationale Konzerne mit vielen Portfolios eigene Gesetze haben. Inhalte sind immer ein schwacher Bereich gegenüber den starken Interessen der Hardware. Sie brauchen jemanden im Vorstand, der ihre Interessen vertritt. Ich denke, mit meinem Weggang fehlte derjenige. Und keiner hat seinen Platz eingenommen.
Wie haben Sie die Entscheidung aufgenommen, dass PolyGram verkauft werden soll? Hat das wehgetan?
Sie bauten das Portfolio um. Wie ich schon sagte, es gab da keine Leute mehr mit dem richtigen Gefühl für das Content-Geschäft. Ich sagte mir, wenn da niemand mehr ist, der das von ganzem Herzen betreibt, dann wird das alles sowieso den Bach runter gehen. Ich war da aber nicht besonders emotional. Das Management war der Ansicht, der Verkauf würde Geld bringen. So war es auch. Vom heutigen Standpunkt aus gesehen, war das womöglich eine sehr rechtzeitige Entscheidung, das muss man schon zugeben. Die Industrie ist in einer sehr ernsten Lage. Ernster als Anfang der 80er. Ernster als vor zwanzig Jahren, in meinen Augen. Es gibt keinen offensichtlichen Ausweg.
Als ich Anfang der 80er zu PolyGram kam und diesen Rohbau der Fabrik in Hannover sah und ich sah die CD, die man uns bei einem Meeting für Philips-Manager in der Schweiz vorgestellt hatte, da sagte ich: Das ist es. Das wird die Lösung sein. Wir werden die Industrie revolutionieren. Heute ist es viel schwieriger, eine Lösung zu finden. Wenn Unternehmen mergen, zusammen gehen oder versuchen, zusammen zu gehen, dann ist das immer ein Zeichen, dass es Ärger gibt. Ich habe die Fragen vorhin schon genannt, die existenziellen Fragen für die Musikindustrie. Jemand muss sie beantworten. Ich bin nicht mehr zuständig.
Lassen Sie uns kurz über Alain Levy sprechen, den heutigen Chef der EMI und früheren Präsidenten der PolyGram. Sie holten ihn in den Vorstand von Philips, als Sie an der Spitze standen. Wie war das für die Philips-Kultur, dass da plötzlich jemand aus dem Software-Bereich im Vorstand saß? Wie waren die Reaktionen der Hardware-Manager?
Alain Levy repräsentierte eine sehr wichtige Abteilung – die Musik. Er steuerte eine Menge Profit bei. Wenn Sie in dieser Position sind, sind die Leute um Sie herum sehr freundlich. Die Hardware-Manager wussten, dass ihr Einkommen auch von Ihm abhängt. Aber es war ein nettes Experiment zu sehen, wie die Hardware- und die Software-Welt sich vielleicht näher kommen könnten.
Waren die Hardware-Leute bereit, sich Levy’s Ideen anzuhören?
Ja. Aber auch hier gilt: Wenn es kein Großereignis wie die Ankunft der Compact Disc gibt, ist die natürliche Synergie zwischen den beiden Lagern nicht besonders groß. Selbst Unterhaltungskonzerne wie Warner hatten immer Probleme, die Synergie zwischen Film und Audio zu erkennen und umzusetzen. Das führt dann manchmal auch zum Verkauf eines Bereichs …
Heute präsentiert Philips sich wenig vernetzt. Verwertungsmöglichkeiten in Richtung Musik, Computer, mobile Telefonie – da ist bei Philips kaum etwas zu holen. Wäre das mit einem Software-Vorstand auch passiert?
Ich weiß nicht. Sie stellen hier gleich eine Verbindung mit Musik her. Aber wir schauen uns Computer unter ganz anderen Gesichtspunkten an. Das sind Produkte mit niedrigen Margen. Nicht jeder kann es wie Dell machen. Es gibt kein großes Unterhaltungselektronik-Unternehmen, dass mit Computern erfolgreich ist. Sony hatte mit Computern traditionell auch keinen Erfolg.
Es ist ein unrentables Geschäft. Wir hatten bei Philips stets andere Interessen. Wir sind ein Zulieferer für die Computerindustrie. Mit Monitoren und diversen anderen Komponenten. Flachbildschirmen etwa. In Nokia- und Siemens-Handys findet man viele Teile von uns.
Ich glaube, die Leute kaufen kein Handy, zumindest ich tue das nicht, weil es Musik abspielen kann. Ich kaufe ein Handy, weil ich telefonieren möchte. Alles andere interessiert mich nicht. Meine Enkeltöchter haben Geräte mit allen denkbaren Funktionen. Ich finde die Qualität nicht sehr attraktiv. Sie haben das Desaster mit UMTS in Europa gesehen. Die europäischen Telefonie-Unternehmen sind fast pleite gegangen, weil sie völlig durchgedreht sind. Sie haben lachhaft hohe Preise bezahlt. Einer nach dem anderen. Weil sie Angst hatten, zurückzubleiben.
Bis auf die Swisscom. Die haben UMTS verpasst.
Wie schön für sie. Da haben sie Glück gehabt. Alle anderen werden das Geld, das sie in UMTS gesteckt haben, nie wieder sehen. Ich habe damals davor gewarnt. Ein Neffe meiner Frau war zu dem Zeitpunkt beim grössten niederländischen Telekom-Unternehmen. Ich sagte zu ihm: “Freunde, ihr seid verrückt, soviel zu bezahlen.” Ja, die jungen Leute werden beeindruckt sein von diesen zusätzlichen Spielereien. Aber es gibt da ein Problem mit den jungen Leuten. Sie haben nicht viel Geld.
Sehen Sie, das ist das Problem mit Technologie, mit Bildschirmtelefonen und UMTS Handys. Technologie kann immer mehr anbieten, als wir brauchen. Ich befürworte zusätzliche technische Möglichkeiten. Aber um welchen Preis? Die Zielgruppe für UMTS sind junge Leute. Und die haben Pre-Paid-Karten, weil ihre Eltern nicht gerne bankrott gehen möchten. Der Markt ist nicht so groß, wie die Telekommunikations-Strategen denken.
Hardware – das ist einfach. Mit der Software für diese Geräte ist es viel schwieriger. Und mit der Nachfrage wird es fast unmöglich. Ich habe diesen UMTS-Wahnsinn nie ernst genommen. Nie. Wer will überhaupt diese raffinierten Telefone? Wer möchte wirklich seine E-Mails ständig und an jedem Ort lesen? Ich denke, das ist eine Minderheit. Wir sind an einem Punkt angelangt, wo die Technologie ausgeklügelte Produkte liefert, über die ein großer Teil der Bevölkerung sagt: Was soll ich damit? Das ist für mich die UMTS-Story. Natürlich kommt das aus Japan. Aber die Japaner lieben eben auch technische Spielereien. Ich sage nicht, dass UMTS sich nie durchsetzen wird. Aber es wird niemals der kommerzielle Erfolg sein, den die Telefon-Unternehmen sich vorgestellt haben.
Im Verdrängungswettbewerb der Telefon-Unternehmen wird der Content allgemein immer wichtiger, um die breitbandigen Verbindungen zu füllen. Die Frage ist: Werden Telekom-Unternehmen eines Tages die Musikindustrie aufkaufen?
Es gibt das Negativbeispiel Telefónica und Endemol. Diese Verbindungen klappen einfach nicht. Die Firmenkulturen sind zu unterschiedlich. Telefon-Unternehmen sind Techniker-Unternehmen. Musikfirmen sind Content-Unternehmen. Das geht nicht zusammen.
Was ist mit Software-Unternehmen wie Microsoft?
Ich glaube nicht, dass Microsoft jemals eine große Plattenfirma kaufen wird. Warum sollten sie das tun?
Denken Sie, dass Musikfirmen alleine überleben müssen, so wie EMI?
Nun, sie werden nicht als Teil eines Mischkonzerns wie Vivendi überleben, soviel wissen wir bereits. Wenn die Deutsche Telekom Bertelsmann kaufen würde, dann wäre Bertelsmann schnell erledigt. Davon bin ich überzeugt. Wenn man ein Telefonunternehmen ist, dann möchte man, dass das Telefon möglichst oft klingelt. Man möchte, dass die Leute es für viele verschiedene Dinge benutzen, denn jeder Klick ist bares Geld. Aber man muss die Leute nicht besitzen, die sich diese zusätzlichen Features ausdenken. Man muss kein Spiele-Unternehmen besitzen. Das Spiele-Unternehmen hat andere Interessen. Es möchte Geld verdienen, indem es dein Telefon benutzt. Mein Punkt ist, als Telefon-Unternehmen musst du die Software nicht besitzen. Die Software-Leute haben ein eigenes Interesse daran, deine Hardware zu benutzen. Im Idealfall funktioniert das Miteinander.
Wenn ein Musikunternehmen zu einem übergeordneten Konzern gehört, kann das bedeuten, dass die Kreativität geschützt ist, nicht dem ständigen Druck des Marktes ausgesetzt wird. Kann das aus Ihrer Sicht Sinn machen?
Das würde die fundamentalen Probleme der Musikindustrie nicht lösen. Diese Probleme sind existenzieller Natur. Ein Eigentümer wie Nokia oder die Deutsche Telekom könnte das nicht ändern. Die Frage ist: Kann ein Musikunternehmen in seiner jetzigen Form überleben? Das ist die große Frage, unabhängig davon, wem es gehört. Ich habe vor acht Jahren aufgehört. Ich versuche, das alles noch ein bisschen mitzuverfolgen. Aber ich werde alt. Ich habe andere Interessen. Ich finde es interessant, was Sie beschrieben haben. Aber die Frage muss jetzt lauten: Was ist der Ausweg? Vor zwanzig Jahren hat uns die Compact Disc gerettet. Was kommt jetzt?
Sie sind jetzt seit acht Jahren im Ruhestand, aber wenn Sie über Philips sprechen, wechseln Sie immer noch zwischen “uns” und “sie” hin und her.
Ich sage beides. Ich bin nicht länger in vertrauliche Angelegenheiten eingeweiht, darum sage ich “sie”. Auf der anderen Seite habe ich natürlich vierundvierzig Jahre in diesem Unternehmen zugebracht. Deshalb “wir”.
Welche Formate nutzen Sie zu Hause, wenn Sie Musik hören? Haben Sie mal einen iPod ausprobiert, besitzen sie einen MP3-Spieler, bleiben Sie bei Cds oder hören Sie nur noch SACDs?
Ich habe ein Kabel-System zu Hause, damit kann ich wundervolle digitale Musik hören. Ich höre Radio und natürlich CDs. Im Auto habe ich einen CD-Wechsler.
Das reicht mir. Ich kenne die anderen Formate, aber ich brauche sie nicht. Ich sehe da für mich kein zusätzliches Vergnügen, keinen Mehrwert. Ich mag meine CDs. Ich brauche keinen neuen Sound oder so etwas.
Die Major-Companies ziehen sich momentan aus dem lokalen Markt zurück. Wie sieht die Zukunft für den lokalen Markt aus? Sind Independent-Labels die Zukunft?
Lokale Märkte waren schon immer problematisch. Meistens gibt es nur wenige Künstler, bei denen es sich wirklich lohnt, Zeit zu investieren. Bei Polydor, da hattet Ihr doch Euren berühmten deutschen Bandleader, James Last. Der war immer gut für ein nettes Einkommen. In Zukunft werden Plattenfirmen noch knapper kalkulieren müssen. Marginale Themen werden vernachlässigt werden. Das ist natürlich die Chance für kleinere Organisationen, diese Themen aufzugreifen. Plattenfirmen sind viel zu teure Konstrukte, sie bezahlen überhöhte Gehälter und werden so zu Opfern ihrer eigenen Politik.
Wahrscheinlich gibt es dann jemanden in Deutschland, der sagt: Wenn die Großen das nicht mehr machen wollen, dann mache ich es jetzt. So wird es kommen. In Holland gibt es diese blöde Idee der Politik, dass Bücher Festpreise haben müssen. So will man sicherstellen, dass auch unbedeutende Autoren ihren Weg in die Regale finden. Das ist natürlich Schwachsinn. Wenn ein Autor nicht gut genug ist, um sein Publikum zu überzeugen, warum soll man ihn dann künstlich am Leben erhalten? Ist seine Arbeit wirklich von solcher Relevanz für unsere Kultur? Wir leben in einer Wettbewerbsgesellschaft. Wettbewerb ist der Schüsselbegriff. Wenn du ein Buch schreibst, das keiner lesen will, solltest du vielleicht kein Schriftsteller sein. Es gibt eine Menge Künstler, die der Meinung sind, wir müssten für ihren Lebensunterhalt aufkommen. Egal, was für einen Müll sie produzieren. Ich denke, wenn die großen Firmen sich nicht mehr um lokales Produkt bemühen, dann kommen ein paar Leute, Ex-Plattenfirmen-Mitarbeiter, greifen das auf und gründen eine eigene kleine Firma.
Die werden sich schon darum kümmern. Es gibt immer Lösungen. Das Verhältnis der multinationalen Konzerne zum lokalen Repertoire war immer heikel. Abgesehen von wenigen Ausnahmen. Das war auch schon zu meiner Zeit so. Ich denke, man kann mit lokalem Repertoire immer noch Geld verdienen, aber man muss es anders anfangen. Nicht mit einem vornehmen Büro. Ganz einfach. In der Garage. Man muss einfache Vertriebswege finden. Jedes Problem hat eine Lösung. In Deutschland war der lokale Markt immer ergiebig, davon müsste man leben können.
In Deutschland haben wir den Vorteil, dass hier 82 Millionen Menschen leben. Das macht es einfacher als für einen holländischen Independent.
In Deutschland, da habt Ihr die richtige Größe.
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