Eigentlich hatte James Dean Bradfield nie die Absicht, ein Soloalbum aufnehmen, doch es kam anders: Fünfzehn Jahre nachdem sie ihren ersten Schwur als junge Rockband gebrochen hatten (gemeint ist hiermit die dickköpfige Ankündigung der Manic Street Preachers, dass sie sich nach einer millionenfach verkauften Platte auflösen würden) haben James, Nicky Wire und Sean Moore schließlich den Entschluss gefasst, sich nun einmal an ein Versprechen zu halten: Besagtes Versprechen entstand in einer Londoner Aprilnacht am Ende einer Tour, die einmal mehr ihre fraglos unverrückbare Position als DIE britische Rockformation der letzten Dekade unter Beweis stellte, und lautet: „Ihr werdet uns für zwei Jahre nicht mehr sehen.“
Nach beinahe zwei Jahrzehnten voller Furore und Verwirrungen, in denen Träume gleichermaßen wahr geworden wie gescheitert sind und Inspirationen und Hingabe, Triumph und Verlust sowie Schmerz und Humor heftig aufeinander prallten, fassten die Manic Street Preachers schließlich den Entschluss zu einer (wenn auch kurzen) Pause. „Nach “Lifeblood“ (2004) haben wir uns dazu entschlossen, dass die Leute eine Weile Ruhe von uns haben sollten. Es passt eigentlich nicht zu uns, dass wir von selbst Abstand suchen. Seit Jahren ist von einer Manics-Auflösung die Rede, wir selbst haben aber nie davon gesprochen. Wir fühlen uns immer noch wie eine Jugendclub-Band, auch wenn wir älter geworden sind“, so James Dean Bradfield.
James jedoch, schon immer der „down-to-earth“-Workaholic in der Band, zählte nie zu den Typen, die achtzehn Monate ihres Lebens auf einem Golfplatz verbringen. „Eigentlich wollten wir sofort wieder ins Studio und ein Manics-Album aufnehmen“, gibt Bradfield zu, „aber zum ersten Mal haben wir uns an ein Versprechen gehalten. Es hört sich zwar schrecklich ehrlich und ernsthaft an, aber ich habe einfach die Musik in meinem Leben vermisst.“
Obwohl er musikalisch den Kurs vorgab, hatte die besondere Arbeitsteilung der Gruppe zur Folge, dass niemand bis dato herausgefunden hat, was genau James Dean Bradfields menschliche Seite ausmacht.
Sein Debütalbum “The Great Western“ zeigt sich ebenso als verspätete Absichtserklärung wie auch als eine heroische musikalische Denkschrift, in der eingängige Klangspielereien im Stil des 1996er Longplayers “Everything Must Go“, der wasserdichte Punkrock von “The Holy Bible“ (1994) sowie die begierige Lebenslust, die bereits auf dem Manics-Debüt “Generation Terrorists“ (1992) zu spüren war, luftdicht in elf selbstbewussten, passionierten und zeitgemäßen Rock-Tracks verpackt sind. Ganz bewusst sei der größte Teil des Werks in kleinen Studios aufgenommen werden: Zum einen im Ost-Londoner Stadtteil Hoxton und zum anderen in Cardiff (wo die Manics bereits “The Holy Bible“ produziert haben). Vor allem die verhüllte, düstere Qualität und die Spur Siebziger-Jahre machen Aufnahmen in kleinen Räumen für James interessant.
Und auch die Lyrics des Soloalbums präsentieren einen James Dean Bradfield, der sich selbst so offenbart wie nie zuvor. Es ist natürlich nicht das erste Mal, dass der Manics-Frontmann einen Text im Alleingang verfasst: “Ocean Spray“, viel gelobte Single des Albums “Know Your Enemy“ (2001), stellt eine sehr persönliche Auseinandersetzung mit dem Tod seiner Mutter dar. Nach einer so extremen Erfahrung war er jedoch nicht besonders heiß auf eine baldige Wiederholung. Er sehe diese Erfahrung nicht unbedingt als eine Art Therapie an, so James, „Diese Texte entstanden vielmehr aus der Stimmung des Todes heraus und danach konnte ich lange nichts anderes mehr schreiben.“ Aber ein anderes, wenn auch glücklicheres Fragment seiner Vergangenheit verhilft James schließlich zu einem neuen Kreativitätsschub: In seiner Manics-Pause pendelt er oft im Zug zwischen London und Cardiff, auf derselben Strecke, die auch damals für die vier Teenager auf ihren ersten vorsichtigen Schritten zum Erfolg eine Art Konstante war. „Ich habe irgendwann festgestellt, dass viele Texte im Zug entstanden und mir wurde klar, dass dies kein Zufall ist“, erinnert sich James. Der Schreibprozess hilft ihm, einige Dinge zu verarbeiten: Mit dem ersten Song, den er verfasst, “An English Gentleman“, schafft er ein bewegendes Tribut an den Mann, dem er und seine Bandkollegen so viel zu verdanken haben: Die Rede ist von ihrem 1993 verstorbenen Freund, Verleger und Mentor Philip Hall, der seine Aufgaben zum Teil so ernst nahm, dass er die jungen Manics am Anfang ihrer unaufhaltsamen Karriere sogar bei sich zu Hause wohnen ließ.
Die Synthese zwischen dem „Rockstar“ James aus dem Westen Londons und James, dem Working-Class-Bengel aus dem walisischen Blackwood, bildet das Fundament von “The Great Western“, was vor allem in dem Song “Which Way To Kyffin“ Ausdruck findet: Eine Hommage an den Künstler Kyffin Williams, der als Englands größter (noch lebender) Landschaftsmaler gilt. „Letztes Jahr war ich in West-Wales“, erzählt James, „und mir wurde klar, dass ich nicht nach London zurück wollte. Ich habe mich richtig dagegen gesträubt. Ich wollte mich einfach auf den Weg machen, um Kyffin Williams zu finden. Sofort los nach Nord-Wales, die drei Stunden fahren und mich dort selbst in eine Landschaft hineinmalen, um dann nie wieder weg zu müssen. „Fast metaphorisch habe ich versucht, wie es auch im Chorus heißt, mich in einem anderen Leben zu zeichnen, so dass es den Anschein hat, dass ich im Bild gefangen bin und es nie mehr verlassen muss.“ Diese selbstreflexiven Anflüge bedeuten aber keineswegs, dass James von seinem vertrauten Weg abgekommen ist, bei dem politische Devisen immer eine wichtige Rolle gespielt haben: So kritisiert zum Beispiel die erste Single “That’s No Way To Tell A Lie“, dass Religionsorganisationen nichts gegen den AIDS-Virus unternommen haben, der sich in Afrika immer weiter ausbreitet, und auch die Message von “To See A Friend In Tears“, der einzigen Coverversion des Albums und eine hinreißende Umsetzung von Jacques Brels Original, geht weit über die inhaltlichen Grenzen des Songs hinaus. „Mir hat einfach gefallen, wie der Song die Debatte über die Lage nach dem Irak-Krieg vorwegzunehmen scheint. Er stammt aus einem Krieg, der in Hinblick auf seine moralischen Urteile deutlich stabiler war. Der Song entstand in den Sechzigern und handelt vom Zweiten Weltkrieg, aber er kommt zu demselben Schluss.“
Natürlich wird jeder echte Manics-Fan auf den ersten Blick erkennen, dass die Lyrics von “Bad Boys and Painkillers“ aus der Feder eines gewissen Nicholas Wire stammen. „Der Song trägt eine Spur Richey (Edwards) und Pete (Doherty); Ich weiß zwar nicht, ob der Vergleich schon häufiger gezogen wurde und, zugegeben, die beiden unterscheiden sich in vielen Dingen, aber im Endeffekt läuft es auf ein und dasselbe hinaus: Pete Doherty spricht immer davon, dass er etwas Vollkommenes in seinem Wunschbild von Albion gefunden hat und dass er im Herzen für immer ein Libertine sein wird. Richey dagegen hat für sich nie auch nur annähernd etwas Vollkommenes gefunden, obwohl er immer auf der Suche danach war, sei es in einem Mädchen, einem Land oder einem bestimmten Ort. Vielleicht hat er ja seinen persönlichen Idealzustand in etwas gefunden, das düster und nihilistisch ist.
Die Erfahrung alleine Musik zu machen fühlte sich für ihn zunächst wie ein Seitensprung an, gibt James zu, und es war eigentlich geplant, dass Sean Moore ein paar Drums zusteuern sollte; er verbringt seine Bandpause jedoch in einem Gemeinschaftsprojekt anderer Art: Er ist Vater geworden. James spielte alle Gitarren- und Bass-Spuren sowie auch einige Keyboard-Sounds ein, während die Drum-Passagen zu “Run Romeo Run“ von Super Furry Animals-Schlagzeuger Daf leuan beigesteuert wurden.
Überraschenderweise hat der musikalische Alleingang des Manics-Sängers die Zusammengehörigkeit der Gruppe sogar gekräftigt: „Nach der ersten Session, die ich alleine gemacht habe, und die, soweit ich mich erinnere, nicht besonders erfolgreich war, wurde mir bewusst, dass – es klingt zwar schmalzig – eine Art Telepathie zu den Personen existiert, mit denen ich aufgewachsen bin und mit denen ich Musik mache seit ich fünfzehn bin. Das werde ich nie wieder als etwas Selbstverständliches sehen, so etwas ist unersetzbar.
Während sich ja die meisten Bands eher davor scheuen, über ihre Einflüsse zu sprechen, redet James ganz offen über seine beiden musikalischen Inspirationsquellen: Beide stammen aus Wales, sind Vorreiter wegweisender Bands und haben ebenfalls einen Alleingang gewagt. Die Rede ist zum einen von “Paris 1919“, dem 1973er Album von The-Velvet-Underground-Pionier John Cale, das zu den absoluten Lieblingsalben des Manics-Sängers zählt. „Seine Songs sind ziemlich verwirrend und man kann sich darin verlieren. Mir gefällt der düstere Ton in vielen seiner Stücke und auch, dass er über verschiedenartige Leute und Orte schreibt und es dabei irgendwie trotzdem schafft, immer walisisch zu klingen, egal, wie sehr er versucht, dem zu entkommen“. Auch das Album“7 Park Avenue“ (1997) von Badfinger-Frontmann Pete Ham, auf dem ausschließlich Demos zu finden sind, zählt zu James’ Inspirationen: „Mir gefällt, dass es ihn offenbar nie kümmerte, was er machte: er schien sich dabei stets wohl zu fühlen. Und es liegt unbestreitbar eine gewisse Melancholie in seiner Musik. Diese beiden Dinge haben mich beeinflusst, weil sie in ihrer esoterischen Umgebung so besonders zu sein scheinen.“
Ohne Frage stellt das Album für James eine Verbindung zu seiner Vergangenheit in Wales her, inklusive ihrer Hoch- und Tiefpunkte. Und genauso erwachsen und nachdenklich, wie sich das anhört, ist auch “The Great Western“. Gleichzeitig finden sich hier aber auch dieselbe Begeisterung für Melodien, das Bedürfnis nach kraftvollen Akkorden und die unbändige Lebensgier, die dem Musiker fünfzehn Jahre lang seinen Platz an der Britrock-Spitze gesichert haben.
Ob ihm sein Solo-Testlauf Lust gemacht hat, bald wieder im Alleingang zu arbeiten? Er habe erst vergangene Nacht das Album gemastered, seufzt James auf die Frage hin, „Aber mir ist auch klar geworden, dass es mir viel Spaß gemacht hat. ‘Words and Music by James Dean Bradfield’ schwarz auf weiß zu sehen macht mich sehr glücklich. Immerhin habe ich ein bisschen von meiner Unsicherheit verloren.“
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