Ihre Videos zeigen eine zerbrechliche Persönlichkeit. Wer sie live erlebt hat, dürfte sie schon als Sex-Symbol sehen. Wir kennen beide Gesichter der Julia Holter. Ein Annäherungsversuch.
Julia Holter ist eine höchst doppeldeutige Persönlichkeit. Auf der Bühne mimt sie die sexy Entertainerin, die ihr virtuoses Klavierspiel besonders kühl zur Schau trägt und mit einer perfekt ausgebildeten Stimme die gängigen Pop-Locations ausfüllt. Privat lässt sie sich die Haare in die Stirn fallen und tauscht den Minirock gegen eine bequeme Plum-Jeans.

Ihr gegensätzliches Prinzip fußt auf dem ständigen Gedanken an Flucht. Von ihren Kompositionen lässt sie sich in fremde Welten entführen, die sich vorher nicht genauer ausmachen lassen. Erst so wird der ständige Wandel möglich. Mit ihren Gefühlen steht sie dabei im ständigen Dialog und folgt ihnen blind: “If you call out, I will follow you“, heißt es ja auch in der Single “Our Sorrows”.

Das janusköpfige Konstrukt ist genauso paradox, wie zerbrechlich — und manchmal hat man Angst, das originale Schema von Julia Holter versehentlich zu beleidigen. “Spionieren verboten” lautet also die Devise an diesem warmen Sonntagvormittag in Dresden. Julia ist noch beim Frühstück, die 27-jährige Kalifornierin lässt es ruhig angehen.

Julia Holter – “Our Sorrows

motor.de: Julia, du hast deine eigene Wohnung zum Aufnahmestudio umfunktioniert. Muss man nicht auch mal Abstand von der gewohnten Umgebung gewinnen?

Julia Holter: Klar, ich würde gerne mal an einen fremden Ort verreisen und dort produzieren. Das wäre ein interessantes Projekt. Mir haben auch schon viele Leute angeboten, in ihren schicken Studios Musik aufzunehmen. Die haben dort wirklich die beste Technik und ein tolles Ambiente. Aber mir kommt es mehr auf die Leute an, als auf die Lokalität.

motor.de: Was ist dir dann wichtig, an den Leuten?

Julia: Dass sie auch ein Leben neben der Band führen. Ich toure mit einem Schlagzeuger und einem Bassisten. Die haben neben dem Julia-Holter-Projekt auch noch andere Sachen am Laufen, diverse Soloprojekte. Das führt bei unserem Projekt zu einer gewissen Entspanntheit, was mir sehr wichtig scheint. Wer keine fremde Inspiration mehr zulässt, der bewegt sich irgendwann in dem immer gleichen Trott. Noch spannender wird es, wenn sich meine Musiker zusätzlich in anderen kreativen Genres bewegen. Meine aktuelle Besetzung ist super, denn die beiden hängen auch viel in diversen Gallerien ab, stellen dort ihre Kunst aus und stehen am nächsten Abend auf der Bühne irgendeines szenigen Independent-Theaters mitten in Los Angeles.

motor: Wenn du so viele andere Musiker um dich scharst, warum ist das Projekt dann trotzdem nach dir benannt?

Julia: Gute Frage. Ehrlich gesagt hätte ich keine Ahnung, was ein guter Bandname wäre. Ja, das ist der eigentliche Grund. Also habe ich es einfach nach mir selbst, dem Komponisten der Band benannt. Außerdem ist das hier alles, was ich tue und immer tun wollte. Im Gegensatz zu meinen Musikern genieße ich den Luxus, mich voll auf das Julia-Holter-Projekt zu konzentrieren.

motor.de: Gibt es dann eine Julia Holter, die mittags im Studio arbeitet und ihr Album nach sich benennt und eine andere, die abends mit Freunden noch ein Bier trinkt, aber immer noch Julia heißt?

Julia: Es gibt kein Rollenspiel, nein. Diese Julia, die gern auf der Bühne steht und noch lieber zu Hause ist und Songs schreibt, die bin wirklich ich selbst. Ich setze mir keine Maske auf oder verwende ein Alter Ego.

motor.de: Aber irgendwie machst du auf der Bühne einen ganz anderen Eindruck, als gerade hier beim Frühstück…

Julia: … stimmt, jetzt bin ich auch vollkommen hier. Das ist schwer zu beschreiben. Vielleicht so: Ich habe keine besonders definierte Persönlichkeit. Live oder im Studio kann es vorkommen, dass ich aus meinem eigenen Denken ausbreche. Und innerlich an einen ganz anderen Ort gehe.

motor.de: Tritt dann doch noch der Charakterwechsel ein?

Julia: Möglicherweise, sobald ich mich ganz in meinem Element befinde. Das kann sehr befremdlich auf Andere wirken, weil man den Unterschied äußerlich nicht feststellen kann. Oberflächlich betrachtet bleibe ich ja immer noch Julia Holter, die abends ein Bier trinkt oder was auch immer.

motor.de: Könntest du dir vorstellen eine Maske aufzusetzen, um deine innere Situation auch äußerlich zu signalisieren?

Julia: Und sie erst abzunehmen, sobald ich wieder im Diesseits angekommen bin? Schwierige Sache. Dieses Outfit oder eben eine Maske bräuchte ja ein Design, das den imaginären Ort widerspiegelt, an dem ich mich dann befinde. Das Problem ist, diese Reise ist noch gar nicht geplant. Ich gehe in meinen kreativen Momenten innerlich an einen anderen Ort, als diesen. Doch wo sich dieser befindet, kann ich nie vorhersagen, weil die Songs im Einklang mit meiner Umgebung und dem Publikum immer völlig verschiedene Gefühle transportieren. Deshalb wäre eine Maske sinnlos. Weil ich nicht wüsste, wie sie aussehen soll.

motor.de: Und wenn du dich doch entscheiden müsstest — welche Maske würde dir am Besten passen?

Julia: Ich würde vermutlich ein düsteres Modell wählen. Ich kann dir aber garantieren, dass ich beim ersten Auftritt mit diesem Ding innerlich plötzlich in Hawaii wäre und denke, ich hätte Blümchenketten um den Hals und all so was. Das würde reichlich blöd aussehen. Das Einzige was mir bleibt, ist mich besonders hübsch zurecht zu machen, damit ich meinem Publikum gefalle.

motor.de: Wie gelangst du überhaupt an diese Orte?

Julia: Das ist schwierig zu ergründen. Zunächst einmal entstehen diese Plätze immer in mir selbst. Das bedeutet ein gewisses Spektrum an Möglichkeiten und keine Unendlichkeit. Den Prozess würde ich als ein ‘sich treiben lassen’ beschreiben. Meistens folge ich nur blind, einer nebensächlichen Note, einem Detail meiner Komposition — ohne wirklich zu wissen, wohin die Reise geht. Und plötzlich erwächst dieses zu einem eigenständigen Gefühl, das sich in mir selbst wieder finden lässt. Glaub aber ja nicht, dass ich verrückt bin. Ich höre ja keine Stimmen in meinem Kopf. Das sind alles nur Gefühle.

motor.de: Das klingt dennoch alles sehr mystisch.

Julia: Ohne Mystik keine Kreativität, das ist einer meiner Grundsätze. Es ist völlig unmöglich, einer Inspiration nachzugehen und von Anfang an genau zu wissen, wohin die Reise gehen soll. Das Ungewisse ist in meinem Leben immer präsent.

Interview, Text und Foto Mitte: Josa Valentin Mania-Schlegel
Foto links: Rick Bahto / The Windish Agency

Lest unseren Live-Bericht von Julia in der Kantine am Berghain.