“Nichts ärgert die Menge mehr, als wenn sie einer nötigt, die Meinung von ihm zu ändern” – Hermann Hesse –
Haut es mit Edding an die Wände: Kettcar werden nicht kapitulieren. Nicht vor dem Kulturkapitalismus. Und erst recht nicht vor den Erwartungen anderer. Nach dem Erfolg ihres zweiten Albums “Von Spatzen und Tauben, Dächern und Händen” haben sich die fünf Hamburger bewusst für die Wut im Bauch entschieden. Mit “Sylt” legt die Band um Sänger Marcus Wiebusch ihre Finger auf die Wunden dieser Zeit.
“Das war eine bewusste Entscheidung. Wir wollten unbedingt ein Album machen, was sich sowohl textlich als auch musikalisch deutlich von unseren Vorgängeralben unterscheidet“ erklärt Marcus Wiebusch an Bord der MS Hoppetosse. Das trübe Berliner Wetter an diesem Tag passt zu den Themen des neuen Kettcar-Albums. Die Spree schimmert melancholisch und das Schiff schaukelt bekümmert gegen den Anlegesteg in Treptow. “Unser Selbstverständnis als Künstler ist dahin gehend gereift, dass wir Songs geschrieben haben wie ‘Würde’, in dem es darum geht, dass einer nicht mehr kann, wieder nach Hause zu seinen Eltern zieht, was ich als die ultimative Kapitulation empfinde. Diesen Zusammenhang zwischen neoliberalen Zeiten und Burn-Out Syndrom wollten wir darstellen. Da gibt es nämlich einen Zusammenhang. Immer mehr Leute brechen zusammen und wir wollten wissen, ob es vielleicht auch anders geht. Wir können diese Themen nicht in plumpe Forderungen packen. Diese Zeiten sind vorbei. Die Probleme sind sehr kompliziert und komplex und deshalb haben wir eine sehr komplizierte und komplexe Textsprache gewählt.”
Video: Graceland
Auf “Sylt” gibt es sehr stürmische Songs. Songs die robuster und direkter klingen als alles was Kettcar bisher gemacht haben. “Mich nerven diese ganzen Bands,” gesteht Marcus, “die auch auf deutsch singen, auch deutlich erfolgreicher als wir sind, die aber immer noch diesen Gestus haben: Am Ende wird ja doch alles gut, wenn du es wirklich willst, kannst du es schaffen. Wir sind nicht frei von solchen Emotionen. Auf den ersten Platten gibt es auch Sätze die Trost spenden, aber wir waren damals und sind auch heute noch hin- und hergerissen zwischen dieser absoluten Lebensbejahung und dem realitätsnahen, düsteren Gesamtausdruck. Denn es ist nicht alles geil.”
Mit „Kein Außen mehr“ muss sich Marcus zudem erstmals erklären – auch gegenüber seinen Bandkollegen, die Zeilen wie “Lieber peinlich als authentisch / Authentisch war schon Hitler” natürlich nicht kommentarlos passieren lassen. “In der Regel kritisieren sie meine Texte nicht. Tatsächlich musste ich bei “Kein Außen mehr” zum ersten Mal etwas erklären. Ich habe ihnen das Konzept des Songs erklärt und warum ich diese Zeile verwandt habe. Es geht um Zerrissenheit, um Authentizität, aber auch um die Unfähigkeit in Zeiten wie diesen authentisch zu sein. Hitler ist in diesem Fall eher ein Wachmacher. Wenn du Hitler singst, hören alle zu.”
Und das Zuhören lohnt sich. Kettcar haben nach den “befindlichkeitsfixierten”, eher nach Innen gewandten Vorgängern ein Album geschaffen, das genau hinschaut. Auf das Du, das Ich und natürlich das Wir.
Steffen Meyer
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