Bislang hat es Marilyn Manson über fünf Alben geschafft, in ständig neuen Erscheinungen ins Rampenlicht zu treten und musikalisch wie äußerlich für Entsetzen zu sorgen. Sei es als amputierter Freak, androgyner Außerirdischer oder unlängst noch als ein den Zwanzigerjahren entsprungener, burlesker Boheme-Lebemann mit faschistoiden Faible. Doch was nun? Wie und vor allem womit schockt man diese Tage noch, wenn alles Anstößige bereits ausgiebig absorbiert wurde?

Mit “Eat Me, Drink Me” geht Manson den einzig logischen und konsequenten Schritt nach all dem Mummenschanz. Er lässt mehr oder minder die Maske fallen und hält nicht mehr der Gesellschaft, sondern sich selbst den Spiegel vor. Und das ist als Vampir gar nicht so einfach…

‘Viele Leute empfinden das Album als persönlicher, emotionaler, unmittelbarer – ja sogar menschlicher…’

‘If I Was You Vampire’ ist nämlich nicht nur der epische Opener von Mansons sechstem Studio-Album, sondern gleichsam erstes Indiz einer der Hauptinspirationsquellen dieser Platte: Mansons Identifikation mit der Vampir-Mythologie. Schließlich hat nicht nur sein verschobener Tages- und Nachtrhythmus, sondern auch sein sonstiger Lebenswandel mit zum Scheitern seiner letzten und langjährigen Beziehung geführt. Und diese Information dient jetzt nicht der Stillung der Boulevard-Blutsauger unter euch, sondern ist für ‘Eat Me, Drink Me’ als Herzausschüttungsalbum zwischen Trennung und Neuanfang einfach mal thematisch relevant. Doch nicht nur konzeptionell, auch musikalisch werden hier selbst für einen Mann wie Manson neue Wege beschritten. Vorbei sind die Zeiten, in denen MM mit lärmenden Industrial-Getöse der Welt seine Sichtweisen aufmerksamkeitserhaschend effektiv ins Gesicht schrie. Fast gesungen trägt Manson nunmehr zu transparent minimalistisch und erstaunlich zurückhaltend instrumentierten Tracks, die ihre Nähe zum klassischen Rock noch nicht einmal mehr negieren, seine düster-elegischen Selbstbeobachtungen vor. “Viele Leute empfinden das Album als persönlicher, emotionaler, unmittelbarer – ja sogar menschlicher. Das sagt auch viel über mich aus und über die Art und Weise, wie ich mich bislang selbst wahrgenommen habe – weniger menschlich. Bei all dem, was ich vorher in meiner Karriere gesagt und dargestellt habe, war ich bislang nicht in der Lage, irgendetwas einfach nur über mich direkt als Person zu kommunizieren. Diese Platte zeigt für mich einen wirklich neuen Ansatz”, so Manson. Hätte er diesen nicht gefunden, wäre es für ihn auch fast vorbei gewesen mit der Musik. Denn die relativ lange Wartezeit auf ein neues musikalisches Lebenszeichen war eng mit der Abwehr des bevorstehenden kreativen künstlerischen Todes verknüpft. “Der Grund, warum ich fast damit aufgehört hätte, Musik zu machen, war ja genau der, dass ich dachte, ich hätte schon alles gesagt und getan. Als Künstler wie auch als Person darf man nicht erwarten, dass die Welt sich dadurch verändern oder beeinflussen lässt, indem man etwas kommentiert, was sowieso schon jeder weiß. Die Welt ist ihr eigenes Opfer. Ich denke, dass wir in einer Zeit leben, in der die einzige Art und Weise, etwas gleichsam sehr Gewichtiges auszudrücken, die ist, seine eigen Persönlichkeit zu zeigen und darzustellen, wie diese sich zu all den Dingen verhält.”

‘Ich kann meine Kunst nicht von dem trennen, was ich selbst bin…’

Auch wenn sich der Mansonsche Mikrokosmos zwar diesmal verstärkt um die eigene Achse dreht, heißt das nicht, dass sich darin keine externen Einflüsse mehr finden. “Ich kann meine Kunst nicht von dem trennen, was ich selbst bin. Und das Resultat davon ist, dass beide Dinge im Sterben lagen. Auf diesem Album finde ich das in letzter Sekunde heraus. Es geht nicht so sehr um das Leitmotiv des Autounfalls, sondern darum, dass ich aus den Flammen wieder aufsteige und meine Identität finde. Auf ähnliche Weise habe ich mich ja auch mit Lewis Carroll identifiziert. Seine Geschichte von ‘Alice im Wunderland’ behandelt das gleiche Thema. Es geht nämlich darum, dass er über seinen eigenen Identitätsverlust schreibt. Das heißt jetzt nicht, dass ich einfach eine Platte gemacht habe, die sich auf ‘Alice im Wunderland’ bezieht. So einfach ist es nicht. Es ist vielmehr so, dass der Entstehungsprozess des Albums ähnlich war wie der von Carrolls Buch.” Manson muss es ja wissen, schließlich arbeitet er seit geraumer Zeit an seinem Regie-Debüt ‘Phantasmagoria – The Visions of Lewis Carroll’, einem Film über das Leben des Schriftstellers, in dem MM auch die Hauptrolle spielen wird.

‘Ich habe auf diesem Album meinem Unterbewusstsein die Führung überlassen…’

Auch wenn der Albumtitel sowie einige andere Motive direkt bei Carroll entlehnt sind, betont Manson, dass hier diesmal kein kühl kalkuliertes Konzept dahinter stand. Ganz im Gegenteil. “Ich habe auf diesem Album meinem Unterbewusstsein die Führung überlassen. Es ist ja so ein fürchterliches Klischee zu sagen, dass diese Platte meine beste Arbeit ist, mich gerettet hat und therapeutisch war. Es stimmt zwar alles – aber es ist noch viel mehr als das. Und der einzige Weg, das wirklich nachzuvollziehen, besteht nicht darin, dass ich es zerrede, sondern indem man sich das Album anhört.” Stimmt genau. Aber bevor ich mir nun selbst die Arbeitsgrundlage entziehe und jede Plattenkritik und jede Interview-Geschichte auf ein ökonomisches ‘Hört euch doch einfach selbst die Platte an’ reduziere, muss Frau Manson noch mal ran. Denn warum dem eingangs erwähnten Eröffnungssong von ‘Eat Me, Drink Me’ so eine Schlüsselrollenfunktion zukommt, möchten wir doch wenigstens noch vom Autor selbst ausgeführt wissen. “Das war auf jeden Fall der Song, der mich selbst davon überzeugt hat, doch ein neues Album anzugehen. Zwar hatte ich auch schon vorher Stücke geschrieben und herumexperimentiert, aber sie waren alle nicht gut genug. Bis dann schließlich ‘If I Was Your Vampire’ am Weihnachtsmorgen über mich kam. Und das war ein ganz besonders schwarzer Tag für mich. Um 6.00 Uhr morgens bekam ich einen Anruf, der mir noch mal bestätigte was ich schon wusste: nämlich dass meine Ehe (mit Strip-Künstlerin Dita Von Teese) endgültig vorüber war. Allerdings wurde mir bei diesem Telefonat auch klar, dass die ganze Sache zu einem hässlichen, bitteren Kampf mutieren würde. Die Sache, worum es ging, mag sich für andere vielleicht nicht so leicht nachvollziehen zu lassen, aber sie hat einen sehr hohen Stellenwert bei mir. Ich habe vier Katzen, die für mich wie meine Kinder sind. Ich wurde also darüber informiert, dass ich sie nicht zurückbekommen werde. Letztendlich habe ich dann doch meine allererste, Lily, wiederbekommen. Ich saß jedenfalls also in dieser leeren Villa, die mir in keiner Weise das Gefühl gab, irgendwie begabt oder besser gestellt zu sein. Einfach nur ein leeres Haus mit einem Weihnachtsbaum ohne Geschenke darunter. Schon traurig, auch wenn ich ja gar kein großer Feiertags-Fan bin. Wie dem auch sei, es war genau zu diesem Zeitpunkt, als meine jetzige Freundin (die Schauspielerin Evan Rachel Wood, süße 19 und Mansons neue Muse) – der einzige Mensch, zu dem ich in dieser Zeit überhaupt irgendeine Verbindung gespürt habe – mich in dieser Verfassung aufgefunden hat, in der ich kurz davor war, mich tatsächlich umzubringen. Sie hat dann ein Schlachtermesser genommen und meinte nur, dass ich sie auch gleich erstechen könne, weil sie ohne mich nicht weiterleben möchte. In diesem Moment habe ich gemerkt, dass ich es nicht zulassen darf, dass meine eigenen Ängste, Zweifel und Unsicherheiten mich zerstören. Und gleichzeitig habe ich zu mir selbst gesagt, dass es doch ziemlich dumm wäre, wenn ich nicht sofort anfangen würde darüber einen Song zu schreiben. Das habe ich dann gemacht, und es hat mir das Vertrauen gegeben, dass ich all meine Ängste in Stärke verwandeln kann.” So, und jetzt dürft ihr selber hören. Und keine Angst, ‘Eat Me, Drink Me’ ist tatsächlich Mansons bislang stärkstes, intimstes und künstlerisch reifstes Album geworden.

Text: Frank Thießies