Ich wuchs in Münster auf: Katholisch-konservatives Elternhaus, zuerst Bauklötze, dann Blockflöte, schließlich Cello. In der Woche wurde gearbeitet, Samstags mähte mein Vater den Rasen. Ich durfte das Auto waschen und danach gemeinsam „Sportschau“ schauen. Sonntags gingen wir in die Kirche. Früh lernte ich, was Schizophrenie bedeutet: während ich mich in den verordneten 60 Minuten täglich an den Cello-Kompositionen von Camille Saint-Saens und Johann Sebastian Bach abarbeitete, hörte und liebte ich während der restlichen Zeit anderes – Pop natürlich. Selbstverständlich scheiterte ich beim Versuch, meinem Cellolehrer die Klasse von Roxy Music näherzubringen. Ich ging in die innere Emigration. Und unterstütze seitdem die Meinung, daß ein DJ Leben retten kann. Namen wie Mel Sandock, John Peel, Dave Coleman, Alan Bangs und später dann Karl Lippegaus stehen für viele. Die Hälfte meiner musikalischen Sozialisation entstammt dem Radio. Wichtigstes Organ war der WDR. Die Moderatoren nahmen mich an die Hand und zeigten mir eine Welt jenseits meiner. Anders, erstrebenswert und, Gott sei Dank, jederzeit verfügbar. Anfangs war es die „Schlagerrallye”, später kamen „Nachtrock” und „Pop-Session” dazu. Natürlich liefen die wichtigsten Sendungen spät Abends und der Lautstärkeregler meines Radioweckers hatte einen Wackler. Kaum war nach Minuten die perfekte Lautstärke für nächtliche Musikausflüge gefunden – laut genug, um jeden Ton zu hören, leise genug, um meine leistungssüchtigen Eltern, die auf einen ausgeschlafenen Sohn im morgendlichen Lateinunterricht pochten, nicht aufzuschrecken – brach irgendein Widerstand zusammen und das Gerät plärrte ohrenbetäubend los. Nach Wochen verzweifelter weil musikfreier Nächte entdeckte ich in einem Hifi-Geschäft die Lösung: Ein Ohrhörer mit passendem Klinkenadapter. Weiß, rauschig aber unschätzbar wertvoll. So lernte ich früh den Mono-Genuß lieben. Nächtelang klebte ich am Radio, den Knopf im rechten Ohr, die Augen geschlossen, aber hellwach. Dann – in einem Akt milden Erbarmens – schenkten mir meine Eltern zum Geburtstag einen „ITT Schaub-Lorenz SL 58 super“ Cassetten-Player. Hätten sie gewusst, wie dramatisch sich mein Leben mit diesem Gerät veränderte – vermutlich wäre es doch nur ein weiterer Zusatzkasten zu meinem ohnehin opulenten Fischer-Technik-Set geworden. So aber durfte ich meine gesamte Frühteenager-Begeisterung auf den Player und seine Software-Bestückung richten. Hier kam die katholische Kirche ins Spiel. Fünf Minuten Fußmarsch vom elterlichen Einfamilienhaus entfernt, befand sich, leicht geduckt unterhalb des Glockenturms, die katholische Leihbibliothek. In einem Flachbau saßen ein paar gutgelaunte Ehrenamtliche, die das Gesamtwerk von Jörg Zink und Unmengen Kinderbücher verwalteten. Hinten links in der Ecke stand jedoch, verschämt, ein Regal mit Cassetten. Großer Vorteil der Cassette: Sie war diskret. Sehr wichtig, angesichts notorisch mißtrauischer Eltern, die im frühen Marius Müller-Westernhagen einen teufelsgleichen Verführer unschuldiger katholischer Jungen vermuteten. Ewigkeiten verbrachte ich am Sonntagvormittag vor der Cassetten-Wand, beschäftigt mit der wöchentlichen Auswahl. Leihregel: Bis zu drei Cassetten waren pro Sonntag erlaubt. Drei Stück! Die Zeit zwischen Kirchgang und Mittagessen wurde zum Höhepunkt der Woche. Irgendein guter Geist im katholischen Jugendzentrum muß um meine Nöte gewußt haben: Bryan Ferry, Can, John Coltrane, Ideal, sogar Frank Zappa fanden ihren Weg ins katholische Cassettenregal. Zur Tarnung steckte ich einen nutzlosen Schmöker ein und schwebte nach Haus. Der Sonntagnachmittag galt der Sondierung. Der Rest der Woche wurde memoriert. (Noch heute behaupte ich, bei „Wetten, daß…“ gute Chancen zu haben: „Herr Becker aus Münster behauptet, 1000 Popsongs nach drei Sekunden erkennen zu können.“) Am nächsten Wochenende kamen die nächsten Tapes dran. In der Pfarrbibliothek fand ich auch eine Cassette dreier blonder Männer, die mich ernst aber nicht unfreundlich anblickten und The Police hießen. Ihr Werk nannte sich „Outlandos D’Amour” und schenkte mir erstmals das erhebende Gefühl, hip zu sein. Denn in meiner Schule konnte ich nun auf die gefährliche Frage „…und was hörst Du im Moment so?” locker antworten: „Police!“ Anerkennendes Raunen. Mein ITT Schaub-Lorenz, ein robustes Gerät mit roter Record-Taste und nicht einrastenden Rück- und Vorspul-Tasten, wurde zum Hochaltar meiner freien Zeit. Eigenartigerweise erzielte der Recorder exquisite Ergebnisse bei Aufnahmen von Pop-Events, die anfangs aus dem Radio, später dann vom Fernsehen aufgezeichnet wurden. Da sich das Mikrophon auf der obenliegenden Fläche befand, mußte das gesamte Gerät gekippt und mit dem Mikrophon nach vorn vor den Lautsprecher gestellt werden. Gebannt saß ich neben dem Fernseher, es lief „Rockpalast“, und ich kriegte einen kleinen Herzinfarkt, wenn mein Vater rücksichtslos den Raum betrat und kundtat, er werde nun ins Bett gehen. Es war 23.45 Uhr und Alan Bangs hatte gerade erzählt, wie sehr es ihn freuen würde, daß bei der nächsten Band der ehemalige Drummer von Patti Smith mitspielen würde. „Psssst!“ zischelte ich und begann zu begreifen, was meine 13 Jahre ältere Schwester mit Vergangenheitsbewältigung meinte. Meine Sozialisation machte einen nächsten, entscheidenden Sprung, als ich von meinem zukünftigen Schwager seinen Dual-Kompakt-Plattenspieler erbte. (Aus meiner Sicht war diese Schenkung eine mehr als ausreichende Mitgift und der Mann somit umgehend berechtigt, meine Schwester zu ehelichen. Was allerdings erst Jahre später geschah.) Endlich schraubte ich mich vom tumben Tape zum stolzen Vinyl hoch. Die Langspielplatte galt als Königsformat. Wer sich zu den LP-Hörern zählen durfte, war angekommen. Gierig nach neuen Klängen, nahm ich mir die Platten meiner Schwester vor und stieß erstmals auf Soul. Als muntere Post-68erin pflegte meine Schwester eine tiefsitzende Afrophilie, die sich vor allem darin äußerte, hin und wieder mit schwarzen Austauschschülern aus Frankreich zu flirten und Musik von Curtis Mayfield, Isaac Hayes und Marvin Gaye zu hören. Ich bin ihr noch heute dankbar für diese frühe Prägung. Mein Dual-Plattenspieler besaß eine wichtige Funktion: Die Kopfhörerbuchse. So verbrachte ich Nachmittage und Abende auf dem flauschig-gutbürgerlichen Teppichboden meiner Eltern liegend, allein, den Kopfhörer auf dem Kopf. Ich pubertierte mich durch geliehene Beatles-, Stones- und Santana-Platten, schämte mich für meine erste Single. Meine Schwester hatte sie mir gnädig vermacht: „El Condor Pasa“ von Simon & Garfunkel. Natürlich war ich einsam und ewig frauenlos. Pickel und eine angeborene Schüchternheit machten mich empfänglich für sämtliche popmusikalischen Einflüsterungen: Mehr und mehr brauchte ich die Droge aus dem Kopfhörer. „Du bist einer von uns“, zischte Mick Jagger. „Kauf mich“, raunte Santana. Bei mageren 5 Mark Taschengeld im Monat und allenfalls vereinzelten Chancen als Meßdiener bei Taufen oder Beerdigungen die – je nach Anlaß – mal ausreichend enthusiasmierte, mal genügend verschreckte Verwandtschaft um ein paar Mark zu erleichtern, wird die Zeit bitter lang, bis das Budget für eine Langspielplatte zusammengetragen ist. In der Zwischenzeit mußte ich zur Entscheidungsfindung gelangen. Welche Platte sollte die erste sein? Ein lebensentscheidender Schritt, dem ersten Sex, dem Führerschein, dem ersten Disco-Besuch gleich. Ich hörte Radio, ich hörte mich unter Schulkollegen um, ich lief immer wieder zu Karstadt. Bald war die Schallplattenabteilung mein zweites Zuhause. Langsam verdichtete sich die Entscheidung: ich freute mich über das Klappcover, studierte Hülle und Inneres. Das seltsame Prisma, die Farbstreifen, die wie ein Herzschlag über das schwarze Cover liefen. Die Texte kannte ich natürlich auswendig. Ich wußte, daß Alan Parsons als Tontechniker tätig gewesen war, daß diese Platte zwischen Juni 1972 und Januar 1973 in den Abbey Road Studios in London aufgenommen worden war. Ich wußte, daß im Background Frauen namens Clare Torry und Doris Troy gesungen hatten. Und daß diese Platte auch als Cassette oder Cartridge (ein etwas merkwürdiges Zwischenformat, das niemals den Weg in die Herzen der Popfans gefunden hat) erhältlich war. An einem Freitag Nachmittag ließ ich die Meßdiener-Gruppenversammlung sausen, setzte mich aufs Fahrrad und fuhr zu Karstadt. Das Geld schlackerte abgezählt in meiner rechten Hosentasche. Die Musikabteilung war gut gefüllt. Ich nahm mir Zeit, fühlte mich wohl, unter Gleichgesinnten. Schließlich nahm ich mein Exemplar, achtete penibel auf ein unverknicktes Cover. Ich schritt zur Kasse, legte die Münzen auf den Tisch. Das gute Stück wurde von der Verkäuferin in eine Plastiktüte gesteckt – etwas zu grob und wenig respektvoll, für meine Begriffe – ich nahm die Tüte, schwebte gen Ausgang. Lief durch die Luftschleuse und stand in der Fußgängerpassage. Ich stellte mich in eine ruhige Ecke, zog die Platte aus der knisternden Tüte, blickte sie verliebt an und wußte – ich hatte alles richtig gemacht. In meinen Händen lag: „The Dark Side Of The Moon“ von Pink Floyd. Christoph Becker