Neues Jahrzehnt, neues Konzept – nach organisatorischen Schwierigkeiten im vergangenen Jahr präsentierte sich das Berlin Festival 2011 mit gelungener Neuaufstellung. Eine aufgeräumte Bühnenlandschaft am Tempelhofer Flughafen und die neu geschaffene DJ-Zone im Club X-Berg empfingen wind- und wetterfest die 15.000 Besucher. motor.de war mit dabei, um sich selbst zu überzeugen, was sich auf dem Hauptstadt-Event so getan hat.
Ewiges Warten, überfüllte Hallen, Festivalabbruch – 2010 bekleckerten sich die Veranstalter des größten Festivals der Hauptstadt nicht gerade mit Ruhm. In diesem Jahr pilgerten dennoch rund 15.000 Besucher auf das Gelände des Flughafen Tempelhofs, um in beflügelnder Atmosphäre abzuheben: Die einstigen Hangars wurden in diesem Jahr zum Rollfeld hin geöffnet, sodass sich der Publikumsraum dadurch angenehm weitläufig gestaltete. Hinzu kamen die legendären Rosinenbomber als spezielles Party-Bonbon sowie die riesige Abfertigungshalle mit geschwungenem Dach und darunter liegender Main-Stage – dies alles versprühte eine Mischung aus Kirmes, Festival und Nostalgie.
Das Post-Dubstep-Wunderkind JAMES BLAKE eröffnete das rege Treiben auf der Main Stage mit seinen ruhigen und zuweilen traurigen Klängen. Dass sein Auftritt jedoch nicht zum kollektiven Trauern avancierte, war seinen subsonischen Bässen zu verdanken. Neben den beinahe schon zu Klassikern avancierten Songs schleuderte er dem bereits zur Eröffnung ordentlich anwesenden Publikum auch das ungemein tanzbare “CMYK” entgegen, dessen Loop-Ästhetik durch das Echo des Flughafenmetalls noch mal gesteigert wurde. Gerade weil das Gelände zu dieser Zeit erst spärlich gefüllt war, wurde die Intimität seiner Musik stark betont. Der Hangar vibrierte, die Masse jubelte – was will man mehr zum Auftakt.
Nach den Kurz-Auftritten von ALEX WINSTON und AUSTRA, die das Tanzbein allmählich in Stellung brachten, konnten THE RAPTURE die Glieder vollends zur Bewegung animieren. Dabei präsentierten die New Yorker nicht nur Songs ihres aktuellen Albums “In The Grace Of Your Love“. Ingesamt zeigte sich Band in einer unfassbar relaxten und geduldigen Stimmung. Nicht nur bei ihnen versagte die Technik hörbar, sodass der Soundbrei zunehmend undurchsichtiger wurde. Und obwohl die Saxophon-Einlagen von Gabriel Andruzzi nicht immer einwandfrei zu hören waren, so überzeugte er in bester Rick Astley-Tanzmanier. Trotz der Probleme: The Rapture brachten die Party auf das Festival.
Man musste sich schon beeilen, um am späten Nachmittag noch RAINBOW ARABIA zu sehen, die dann einige festivaltypische Technik-Sperenzien auf den Punkt brachten: “Ich hoffe es klingt gut für euch da draußen”, sagte auch Tiffany Preston, die zierliche Frontfrau der Elektro-Schräglinge, “hier oben hört es sich an, als würde ein riesiges Spaceshuttle landen.” Tatsächlich muss die Soundgestaltung mit den drei Bühnen recht schwierig gewesen sein – an mancher Stelle stehend, hörte man leider nur noch Bass und konnte keinerlei Melodien mehr differenzieren.
Punkt 18 Uhr betrat mit THE DRUMS ein beliebter Indie-Act die Bühne. Für ihren Auftritt waren sie zu fünft und brachten ein umfangreiches Synthie-Equipment mit. Mit solider Performance bewiesen sie spielerische Qualitäten und gaben sich abgesehen von Hipster-Tanzeinlagen des Sängers recht bescheiden. Wiederholt betonten die New Yorker, dass sie sich freuten, in Berlin zu sein – eine der großartigsten Städte der Welt. Ihr Albumzweitling “Portamento” erreichte zudem pünktlich an ebendiesem Freitag hiesige Plattenläden. Ein weiterer Grund für die vielen Köpfe vor der Bühne ein wenig zu tanzen oder alternativ die griffigen Hook-Lines mitzusingen.
Wütend und mit wehenden, headbangenden Mähnen stand am frühen Abend schließlich das Elektro-Noise-Quartett HEALTH auf der Bühne. Eine enorme, synthetisch kratzende Klangwelle stob dem Publikum entgegen und nahm gänzlich ein. Die hauchenden, effektüberladenen Gesänge hatten so ein perfektes Bett und konnten den ein oder anderen Schauer über den Rücken jagen. Dazwischen faszinierten all die feinen Melodien, die sich aus dem Lärm immer wieder in den Vordergrund sponnen. Das Konzert eröffnete außerdem die Möglichkeit, einmal live zu verfolgen, wie die ungewöhnlichen Klänge der Gruppe eigentlich entstehen. Nebst unzähliger Potis auf einem ganzen Tisch voll elektronischem Equipment, stehen die vier ganz in Rockband-Manier im Scheinwerferlicht. Dank kreativster Verfremdungseffekte schaffen sie es jedoch einen Bass so seltsam hell und rauschend klingen zu lassen, dass man beim Hören ihrer Alben niemals auf die Idee käme, es könnte sich um einen solchen Vier-Saiter handeln. Im Rahmen des Events gaben sie später gegenüber dem Berliner Radiosender Fritz an, dass ein neues Album kommen werde. Es solle anders klingen, die Band jedoch noch als Health zu erkennen sein.
Um 19.30 Uhr betraten mit septemberlich einbrechender Dunkelheit die Math-Rock-Frickler von BATTLES die Bühne. Einmal mehr bewies das Trio, dass sie auch nach dem Ausstieg von Sänger Tyondai Braxton ihre experimentellen Synthiestrukturen energiegeladen auf die Bühne bringen. Dass man dazu gleich zwei Keyboards auf einmal oder alternativ einhändig Keyboard und mit den anderen fünf Fingern tappend Gitarre spielt, scheint keine Frage. Die diversen Gastsänger, die den Songs auf ihrem aktuellen Album “Gloss Drop” ihre Stimmen liehen, erschienen auf Hologrammwänden mit auf der Bühne und Ex-Helmet-Drummer John Stanier bewies tobend mit irrsinniger Präzision in den absolut konträren Rhythmen, dass er einer der besten Math-Schlagzeuger aller Zeiten sein muss. “Atlas”, ihr beliebter Song vom 2007er Debüt “Mirrored” wurde aufgrund einiger Loop-Patzer spontan umgestaltet und kam auch in der improvosierten, gelungenen Bearbeitung sehr gut an.
Während es auf der Main Stage einen ordentlichen Gitarreneinlauf gab, kam um Acht Uhr das Kollektiv HERCULES AND LOVE AFFAIR auf die Bühne des Nebenhangars. Als Stromgitarren-Narr kann man diese fünf Individuen auf der Bühne selbstverständlich als rumtanzende Hanseln betrachten. Andere erkennen in HALA eine mit House- und Sex-Appeal ausgestattete Formation, die mit Scatman-Einlagen und ausreichend 80er-Retro-Geist die Masse zu kitzeln weiß. Spaß ist, was ihr draus macht. Zu allem kam dann noch ein Andre Butler, der klatschend, zappelnd und in Unterhose sich und die Menge zelebrierte. Großartig.
Um 21 Uhr richteten sich tausende spannungsgeladene Blicke gen Main Stage: Urgestein Bobby Gillespie lud mit seiner Band PRIMAL SCREAM zur Live-Darbietung des Albums “Screamadelica”. Trotzdem es der bislang einzige Auftritt dieser Art in Deutschland war, fanden sich zwar nicht unbedingt massenweise, aber umso euphorischere Fans vor der Bühne: Sie tanzten, schwelgten, lagen sich vor Glück in den Armen – die eindrucksvollen Visuals unterstrichen die intensive Live-Darbietung der Schotten umso mehr. Spätestens dieser Gig bewies, dass “Screamadelica” auch zwanzig Jahre nach seinem Release noch nichts von seiner Magie verloren hat.
Gerade Freunde der dub-igen und mit Reggae angereicherten Pop-Musik hatten sich auf SANTIGOLD gefreut. Doch auch der Hangar 5 hatte Soundprobleme, sodass der Paradiesvogel aus Philadelphia selbst nach 25 Minuten noch nicht zu sehen war. Deswegen ging es schnurstracks in den Hangar 4, um Sascha Ring alias APPARAT zu sehen. Sympathisch und grundentspannt verlief sein Auftritt mit Band. “Was suchst du? Deine Becken? Das macht nichts, wir spielen sowieso nur noch ruhigere Lieder, da brauchen wir keine Becken”, lachte Sascha Ring gut gelaunt über kleine organisatorische Schwierigkeiten aus der Ecke des Schlagzeugers. Feinsinnig geschichtete Klangwände zwischen elektronischen Flächen und instrumentalen Parts hüllten den Zuhörer in eine durchaus melancholische Atmosphäre, die zur restlichen Festivalstimmung doch recht verschieden war. Obschon sie enorm gut spielten, war es nicht hundertprozentig möglich, sich fallen zu lassen, was die Gruppe wirklich verdient hätte. Ein wirklich empfehlenswerter Live-Act, jedoch vielleicht in kleinerem, ruhigeren Rahmen noch mehr zu genießen.
Als letzter Act auf dem Tempelhofer Flughafen, bevor es dann im Club X-Berg so richtig an den DJ-Pults losging, trat noch einmal eine kleine Legende aufs Podium: WIRE. Ende der Siebziger und auch in den 80ern prägten die Londoner den englischen Post-Punk. Kein bisschen müde schienen sie zu sein, schickten sie doch auch erst in diesem Jahr mit “Red Barked Tree” ein brandneues Album in die Regale. Ihr Sound klang vollkommen zeitgemäß und zeigte genau jenen Garagen-Charme, den auch viele junge Rockgruppen im Moment anstreben. Für den ein oder anderen langsam ergrauenden Schopf im Publikum endete der Abend in den Hangars so vielleicht mit einer Jugendliebe, für die jüngere Generation mit einem kleinen Stück Musikgeschichte.
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Vom Berlin Festival berichteten für euch Tabea Köbler, Danilo Rößger und Sebastian Weiss.
Text: Tabea Köbler, Sebastian Weiss
Fotos: Danilo Rößger
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