Das ebenso elegante wie alte Café Einstein in der Berliner Kurfürstenstraße ist nicht unbedingt ein Ort, den man als Location für ein Interview mit Sven Regener erwartet. Spontan hätte man vielleicht eher an eine gemütliche Kneipe in seiner Nachbarschaft in Prenzlauer Berg oder natürlich die Markthalle in Kreuzberg gedacht. Doch das Private hat der gebürtige Bremer und Wahlberliner immer schon gerne vom Beruflichen getrennt und die mittlerweile auch schon drei Jahre alte „Herr Lehmann“-Masche muss ja nicht schon wieder bedient werden. Obwohl man damit nicht ganz falsch liegen würde. Denn auch in Regeners zweitem Roman „Neue Vahr Süd“ dreht sich alles um Frank Lehmann. Allerdings spielt das neue, nach einer Bremer Plattenbausiedlung benannte Buch gute neun Jahre vor dem Überraschungs-Bestseller. Weil er es irgendwie verpeilt hat, zu verweigern, muss Frank zur Bundeswehr. Das ist zwar endlich eine Gelegenheit, von zu Hause auszuziehen, doch der Kasernenalltag erweist sich als denkbar unangenehme Alternative. Immerhin kommt er an den Wochenenden in einer WG bei Freunden unter, die für die proletarische Weltrevolution und gegen Aufrüstung kämpfen. Und dann ist da auch noch die sympathische Studentin Sibille… Planlos ist Herr Lehmann also schon immer gewesen, und die Frage, wann und warum er nach Berlin gekommen ist, wird durch „Neue Vahr Süd“ nun auch endlich beantwortet. Und ein sichtlich gut gelaunter Sven Regener erzählt sogleich, dass auch noch ein dritter Lehmann-Roman folgen wird, sozusagen als Mittelteil einer Trilogie. Die Fans seiner legendären Band Element Of Crime, deren 20jähriges Jubiläum im kommenden Jahr ansteht, beruhigt er aber bei allem schriftstellerischen Eifer auch und kündigt ein neues Album an. Sagt es und bestellt zum Mittagessen eine Runde Tafelspitz: „Das gleiche wie immer!“ Womit auch die Frage nach dem Café Einstein beantwortet wäre.

Herr Lehmann, die zweite, dieses Mal also die Vorgeschichte. Wie ist es dazu gekommen?
Ich habe das damals, als „Herr Lehmann“ rauskam, nicht raushängen lassen, aber es war von vornherein geplant, dass es drei Bücher geben wird, von denen Herr Lehmann das dritte ist. Und „Neue Vahr Süd“ ist das erste. Aber man sollte so etwas ja nicht ankündigen, wenn man noch gar nicht weiß, ob man es überhaupt schafft. Das erste ist schließlich das schwierigste, und ich habe da nicht Ankündigungsweltmeister sein wollen und am Ende stehe ich mit leeren Händen da. Aber man kann in „Herr Lehmann“ durchaus Hinweise darauf entdecken. Der Bruder, der durch das ganze Buch geistert, oder die Debatte mit Kathrin, der er erzählt, dass er eben nicht wegen der Bundeswehr nach Berlin gekommen ist. Da fragt man sich als Leser manchmal, was das soll, merkt aber, dass diese Sachen für Herrn Lehmann eine große Rolle spielen.

Was macht denn den besonderen Reiz dieser Figur aus?
Für mich ist Herr Lehmann extrem interessant. Ich habe sehr viel Spaß daran gehabt, diesen zweiten Roman zu schreiben, gerade weil er jetzt neun Jahre jünger und noch auf eine gewisse Weise unfertig ist. Und trotzdem ist er eben derselbe. Derselbe, aber nicht der gleiche, komischerweise. Er wurde mir dabei nie zur Last, weil ich einfach nicht das Gefühl hatte, dass mit diesem Mann das ganze Hühnchen schon gerupft war. Ich habe Herrn Lehmann von vornherein als jemanden mit Vorgeschichte gesehen, der nicht voraussetzungslos so ist wie er ist. Er wird von vielen als ambitionsloser Freak empfunden, aber in Wirklichkeit hat ja jeder Mensch auch eine Geschichte. Im ersten Buch ist er jemand mit relativ fertigen Meinungen zu allen möglichen Dingen, während er hier jemand ist, der eigentlich überhaupt keine Meinung hat. Man stellt also fest, dass man doch nicht einfach sagen kann, Herr Lehmann ist so und so. Da steckt eine Entwicklung hinter.

Besteht also gar nicht die Angst, für immer auf diesen Lehmann-Charakter festgelegt zu sein?
Nein, überhaupt nicht. Eine Trilogie ist eine Trilogie. Das nächste Buch wird da anfangen, wo das neue aufhört. Herr Lehmann fährt mit Wolli nach Berlin und sucht seinen Bruder auf. Das wird vielleicht einen Zeitraum von zwei Wochen haben. Und in „Herr Lehmann“ ist er dann ja später schon eine viel gereiftere Figur. Das schränkt einen nicht so wahnsinnig ein. Den groben Abriss der Geschichten habe ich ja auch schon längst fertig. Ich bin zwar niemand, der so ein Buch im Vorfeld minutiös durchplant, sondern da kann einem schon mal eine Figur wie der Kristall-Rainer während des Schreibens zulaufen. Aber das grobe Muster dessen, was passieren soll, habe ich schon im Kopf.

Es wurde oft geschrieben, wir alle seien ein bisschen Herr Lehmann. War das bewusst geplant, dass sich mit dieser Figur möglichst viele Leser identifizieren können?
Eigentlich gar nicht. Und er trifft ja auch auf viel Widerstand und viele nennen ihn einen Schlaffi, einen Hänger. Aber ich glaube, den Hintergrund und die Welt, in der diese Geschichte spielt, kennt jeder. Das ist nichts Ungewöhnliches. Hier haben wir einen Typen, der extrem unspektakulär und sehr unglamourös rüberkommt, der nichts Tolles geleistet hat in seinem bisherigen Leben. Aber er hat seine eigene Geschichte, und die kann man so erzählen, dass viele Leute sie verstehen und mitleiden. Das ist natürlich schon eine spezielle Qualität, die diese beiden Lehmann-Bücher haben.

Sie betonen immer, dass Herr Lehmann ganz anders ist als sie selber. Macht das das Schreiben einer solchen Figur leichter? Und wo gibt es vielleicht doch Parallelen?
Wenn man sich grundsätzlich darüber klar ist, dass es sich um einen ausgedachten Menschen handelt, ist man viel freier. Über mich selbst zu schreiben widerspricht auch meinem Naturell, denn ich möchte mein Leben nicht fremden Menschen preisgeben. Diese Form von Exhibitionismus liegt mir fern, das will ich nicht. Trotzdem gibt man natürlich einer solchen Person auch einige Sachen mit, die man selber hat, zum Beispiel den Hang zur Pünktlichkeit. Andere Sachen sind dann wiederum ganz anders. Man mischt das einfach durcheinander. Und irgendwann steht diese Figur plötzlich da und hat ein eigenes Leben. Und sogar einen eigenen Willen, wenn sie auf einmal Sachen macht, die man wirklich nicht geplant hatte.
Es ist auf jeden Fall eine ganz andere Art zu schreiben als die von Journalisten. Da schreibt man Reportagen und ist in der Beschreiber-Position. Aber in der Literatur muss man aufpassen, dass man eben nicht Leute benutzt, die man erkennt, oder zumindest nicht so, dass man sie wiedererkennt. Das macht den Autor unfrei. Jemand, den ich aus dem richtigen Leben kenne, kann vielleicht bestimmte Sachen gar nicht machen, weil es nicht zu ihm passt. Aber natürlich kann ich eine Figur schaffen, die das machen kann. Ich muss also nicht über den realen Menschen nachdenken, sondern nur der Figur gerecht werden, die ich geschaffen habe. Und letztlich ist es doch auch völlig uninteressant, welche Parallelen es zwischen Lehmann und mir gibt, oder ob ich das alles erlebt habe. Da scheißt doch der Hund drauf! Das kann ich sowieso alles behaupten, kann ja niemand nachprüfen.

„Herr Lehmann“ gilt vielen als ultimatives Berlin-Buch. Ist „Neue Vahr Süd“ jetzt das Pendant für die Bremer?
Ich habe extra den Titel „Neue Vahr Süd“ gewählt, weil mir dieses Berlin-Ding so auf den Senkel ging. Ich habe gerade Briefe von einer Schweizer Schulklasse bekommen, die das Buch gelesen haben und noch nie in der Nähe von Berlin waren. Wenn man also „Herr Lehmann“ nur mit Berlin in Verbindung bringen kann, warum können die das dann auch goutieren? Kafka hat ja auch nicht ultimative Prag-Bücher geschrieben. „Der Prozess“ ist doch kein Prag-Buch, nur weil es in Prag spielt. Das ist so eine ganz komische Mode in Deutschland, die Orte so überzubewerten. Natürlich spielte „Herr Lehmann“ in Kreuzberg, aber das war doch nicht das Hauptthema des Buches. Genauso wenig wie „Neue Vahr Süd“ ein Buch über die Bundeswehr oder über die K-Gruppen ist. Das sind viel zu abstrakte Sachen, über die kann man gar keine Bücher schreiben. Ich wollte einfach ein Buch über den jungen Frank Lehmann schreiben, der zur Bundeswehr muss und diese Kumpels hat. Und ich kenne mich nun mal nur in Bremen, Hamburg und Berlin aus, also müssen meine Bücher da spielen. Ich habe nirgendwo anders gelebt und deswegen keine Ahnung davon. Warum also sollte ich ein Buch in München spielen lassen? Im Falle von „Neue Vahr Süd“ ist natürlich auch wichtig, dass diese Neubausiedlung, diese Herkunft den Mann prägt. Das ist eine ganz bestimmte Art von kleinbürgerlichem Arbeitermilieu, das man aus einem Menschen auch nicht mehr rauskriegt. Den Namen fand ich daher einfach passend, auch wenn es kein Buch über die „Neue Vahr Süd“ ist.

Worin bestand für Sie eigentlich der Reiz des Themas Wehrdienst oder Bundeswehr?
Ich war ja ein halbes Jahr bei der Bundeswehr, bevor ich ausgemustert wurde. Das war die schlimmste Zeit in meinem Leben. Aber ich dachte immer, für irgendwas muss sie je gut gewesen sein. Und hier sehen wir nun wofür. Was mich gereizt hat, war dieser totale Kontrast, den es oft gab, zwischen diesem Leben unter der Woche, in der Kaserne, und dem Leben am Wochenende in der Wohngemeinschaft mit diesen Maoisten. Diese völlig verschiedenen Welten waren spannend, und dazwischen jemanden wie Frank Lehmann zu sehen, der auf diesem schmalen Grad versucht sein Leben hinzukriegen, das ihm völlig aus dem Ruder gelaufen ist. Er trauert seinem alten Leben nicht hinterher, aber der neue Zustand geht eigentlich auch nicht. Er hängt also völlig in der Luft und das ist sehr reizvoll. Und ich stehe auch drauf, wenn am Ende eines Buches jemand aus rauchenden Trümmern die Stadt verlässt. Das war bei „Herr Lehmann“ mit dem Mauerfall so, und auch bei „Neue Vahr Süd“ ist der Zustand ähnlich.

Geht einem eigentlich das zweite Buch, mal abgesehen von der Geschichte, leichter von der Hand?
Man ist natürlich etwas geübter und bestimmte Entscheidungen muss man nicht mehr fällen, wie zum Beispiel die Erzählperspektive. Aber wirklich leichter macht das das Schreiben nicht, denn das Buch hat sich leider nicht von selbst geschrieben. Ich habe mich beispielsweise auch derbe verschätzt, was den Umfang angeht. Ich habe anfangs nicht gedacht, dass es so ein dickes Buch wird, denn ich habe unterschätzt, was es bedeutet, ein Buch in zwei so unterschiedlichen Welten spielen zu lassen. Da muss man sich natürlich auf beide voll einlassen, denn man will sich ja nicht auf irgendwelche altbekannten Vorurteile beim Leser verlassen.

Wie groß sind die Parallelen beim Schreiben eines Buches und dem Schreiben von Songtexten?
Das hat miteinander eigentlich nicht so viel zu tun. Andererseits ist bei beidem das Sich-Erinnern wichtig, also gibt es zumindest eine kleine Ähnlichkeit. Dass man sich an Stimmungen und Gedanken erinnert, spielt sowohl bei Songtexten als auch bei Literatur eine Rolle. Denn es ist ja Quatsch zu denken, man schreibe Songtexte, weil man in dem Moment so drauf ist. Man schreibt kein unglückliches Liebeslied, weil man gerade Liebeskummer hat. Das ist einer der fatalsten Irrtümer, die die Welt kennt. Man hat einfach eine gute Idee für einen Song, in dem jemand unglücklich verliebt ist, so einfach ist das. Man schöpft dabei natürlich aus Erfahrungen, Erinnerungen, aus der Phantasie. Es ist ja alles da, man kann alles verwenden, aber das muss mit einem selber überhaupt nichts zu tun haben. Oder auf eine ganz andere Weise, als man denkt. Deswegen bin ich auch nicht der Typ, der sich morgens einfach hinsetzt und schreibt. Ich denke eher einen Monat lang nach und schreibe dann ein Kapitel. Das geht dann auch mal in ein oder zwei Tagen, aber nur weil ich vorher so lange darüber nachgedacht habe. Bei den Songtexten ist genauso. Die sind auch nicht einfach da, sondern da ist zunächst eine Melodie, die man lange mit sich herumträgt. Deswegen kann ich auch nicht parallel an einem Buch und an Songs arbeiten.

Haben Ihre Arbeit als Autor und auch der Erfolg eigentlich den Zustand von Element Of Crime verändert?
Ich habe damals angefangen, „Herr Lehmann“ zu schreiben, als klar war, dass wir ohnehin ein Jahr lang nichts mit der Band machen. Wir haben ohnehin immer wieder Pausen gemacht, daher ist es nicht so, dass ich plötzlich zu wenig Zeit für die Band hätte. Das Problem ist natürlich dieser gigantische Erfolg. Das führt dazu, dass man – noch mehr als ohnehin schon als Sänger – im Rampenlicht steht. Das ist auch eine Kränkung, weil ich innerhalb der Band ja nicht mehr auf dem Kasten habe als die anderen. Wenn also zum Tourstart plötzlich die „Tagesthemen“ vor der Tür stehen, hat das eine gute und eine schlechte Seite. Schlecht ist, dass sie vermutlich nur zu 20% wegen der Band kommen und sich vor allem dafür interessieren, dass das Buch so ein Erfolg ist. Die gute Seite ist natürlich, dass die „Tagesthemen“ da waren und wir vor ausverkauftem Haus spielen. Denn letztlich kommen die Leute zu Element Of Crime ja doch wegen der Musik. Niemand ist so blöd und gibt 20 Euro für eine Karte aus, weil da der Schriftsteller singt. Es ist höchstens so, dass neue Leute die Band für sich entdecken und überhaupt von ihr erfahren, weil ihnen das Buch gefallen hat. Und darum geht es ja: dass Leute die Band kennenlernen, denen die Musik vielleicht gefallen könnte.

Wird es denn im nächsten Jahr, zum zwanzigjährigen Bandjubiläum, ein neues Album geben?
Ich würde sehr gerne ein neues Album hinkriegen, wir müssen nur einfach noch ein paar neue Songs schreiben. Aber wir würden das Album garantiert nicht wegen des Jubiläums machen. Von Jubiläen haben wir nie gerne etwas gehört und haben sie auch nie gefeiert – nicht nach fünf und auch nicht nach zehn Jahren. Ich halte es nicht für einen besonderen Verdienst einer Rockgruppe, überlebt zu haben. Nur weil es etwas schon lange gibt, ist das noch lange kein Grund zu feiern. In vielen Fällen wäre es ja auch besser, wenn es nicht so wäre. Außerdem will ich zu solchen Anlässen auch die Leute nicht in Geiselhaft nehmen, nach dem Motto: „Ihr sollt jetzt mit uns feiern, dass wir seit 20 Jahren nicht mehr arbeiten müssen!“ Die Rolling Stones machen das ja auch nicht.

Interview: Patrick Heidmann