Manchmal gibt es Songs, die treffen einen aus heiterem Himmel genau am rechten Ort zur rechten Zeit. Das kann ein Liebeslied sein, wenn man verliebt ist. Das kann ein Willie Nelson-Song sein, wenn man gerade einen Bauernhof geerbt hat. Oder meinetwegen auch ein Stück von Mike Pattons Lieblings-Spielzeug Fantômas, wenn man sich im Allgemeinen etwas ulkig fühlt. Was das alles mit der Band um die es hier geht, also mit Pretty Girls Make Graves, zu tun hat? Nicht viel, eigentlich… außer… aber dazu gleich.

Erst mal noch ein paar Worte zu den hübschen Ruhestättenausheberinnen. Die kommen aus Seattle, sind inzwischen zu zwei Fünfteln tatsächlich weiblich (die Keyboarderin Leona Marrs ersetzte den Ex-Gitarristen und jetzigen Vollzeit-Papa Nathan Thelen und ist somit neben Sängerin Andrea Zollo die zweite im Bunde – Drummer Nick Dewitt, Bassist Derek Fudesco und Gitarrist Jay Clark sind nach wie vor dabei und männlich) und werden von nicht wenigen als neueste Gralshüter des “Hardcore für denkende Menschen” gehandelt. Um so mehr, seit sich At The Drive-In (den Vergleich hören sie aber gar nicht gern) auf die Monde des Mars (Volta) bzw. gen Sparta verzogen und sich auch Fugazi anscheinend in die ewigen Jagdgründe verabschiedet haben.

Pretty Girls Make Graves touren fleißig und haben in den etwa fünf Jahren ihrer Existenz bereits drei Alben aufgenommen – deren neuestes, “Elán Vital”, erscheint dieser Tage und präsentiert die Band in guter Form. Es groovt und kracht, es zwickt und zwackt, ist melodiös und kantig zugleich. Und – jetzt kommt der Moment, wo der Elefant das Wasser lässt: Es hat (mindestens) einen echten, richtigen Hit. Das soll natürlich nicht heißen, der Rest des Albums sei nicht toll (ist er, ist er!). Aber oft ist es doch ein besonderer Song, der mehr als alle anderen funkelt und scheint. Zumindest findet das meine Wenigkeit. Und das ist dann einer dieser Songs, die einen aus heiterem Himmel und so weiter. Auch, wenn ich im Falle von “Parade” (so heißt das gute Stück) erst beim zehnten Hören eine Ahnung bekam, worum es überhaupt gehen könnte, und inzwischen sicher bin, dass es mit meiner täglichen Realität nicht viel zu tun hat (also kein Liebeslied über ulkige Bauern oder so). Trotzdem ein sehr packender Song. Also flugs nach Hamburg geschippert, wo Andrea Zollo und Derek Fudesco geduldig der Fragen harrten, die da kommen mochten – und erst mal ein Kompliment bekamen:

Ich habe übrigens einen Lieblingssong auf eurem neuen Album…
Andrea: Cool!

Und zwar “Parade”. Der Song hebt sich ja ziemlich von den anderen ab, gibt es dazu eine Geschichte?
Derek: Was die musikalische Seite betrifft: Ich sammle alte Drum-Computer, analoge Drum-Maschinen. Leona, unsere neue Keyboarderin kam vorbei und wir wollten einen Song schreiben. Wir spielten etwas mit einem meiner Geräte herum. Das war kaputt, hing immer auf dem selben Beat fest – den ich übrigens seitdem nicht wieder so hinkriege – also spielte ich einen Bass dazu und nahm das auf. Sie dachte sich eine Keyboard-Melodie dazu aus, und wir fanden, das sei schon ein ganz cooles Gerüst für einen Song; merkwürdig aber cool. Dann spielten wir es dem Rest der Band vor.
Andrea: Normalerweise habe ich bisher immer gewartet, bis die Musik komplett fertig war, bevor ich mit dem Schreiben der Texte begonnen habe. Aber als Derek und Leona diesen Song zum Jammen mit in den Proberaum brachten, hatte ich schon beim Anhören des bloßen Gerüstes eine Gesangsmelodie im Kopf. Und da steckte sie sofort fest, ich wusste, das wird merkwürdig, irgendwie anders [lacht]. Was den Text betrifft: Ich habe über die Jahre viele Songs über Arbeit geschrieben, und darüber wie sehr ich Arbeit hasse [lacht] – nicht nur im Sinne von “Fuck Work!”, sondern eher darüber, wie wütend ich beispielsweise über meinen Boss war. Und wir haben nie einen davon verwendet, auch, weil sie einfach nicht besonders gut waren – aber ich wollte immer ein Lied über das Thema machen. Und vor kurzem haben wir eine Aufführung des Theaterstücks “Waiting For Lefty” gesehen, in dem ein Freund von uns mitspielte. Das Stück brachte mich fast zum Weinen, und kurz vor Schluss war ich drauf und dran, aus meinem Sitz zu springen und auch “Streik! Streik!” zu rufen – so gut war es! Das brachte all diese Ideen zum Sprudeln, und ich wusste: Das ist der Song! Und als ich das dann der Band vorsang, sagte Jay: “Ich habe keine Ahnung, was ich dazu spielen soll!” Sonst dachte er sich die Gitarrenparts eben während der Entstehung des Songs aus, diesmal war der Song schon fertig. Und er war wirklich eine Weile ratlos, bis… Jay ist von Hause aus eigentlich Schlagzeuger, ein sehr guter sogar, mit einem sehr eigenen Stil. Also hatten wir die Idee, ihn ein zweites Schlagzeug spielen zu lassen. Ich liebe Double-Drumming und wollte so etwas schon immer mal auf einem unserer Songs haben. Bei der Aufnahme ist er nicht wirklich durchgedreht,, aber ich denke, live wird er dem Song einige neue Aspekte hinzufügen. Es freut mich, dass du den Song magst – es ist auch einer meiner Favoriten! Er ist wirklich anders als die anderen Songs auf der Platte…
Derek: …eigentlich auch anders als alle anderen Songs, die wir bisher geschrieben haben.

Der Rest des Albums klingt sehr düster, beinahe nächtlich in der Stimmung…
Andrea: Ja [lacht]. Eigentlich klingen aber alle Songs auf dieser Platte sehr unterschiedlich. Wir haben die endgültige Reihenfolge der Songs etwa zehn mal aufgestellt und wieder verworfen, bis wir einen Flow gefunden hatten…
Derek: Es war ziemlich schwierig, eine Einheit daraus zu machen. Jeder Song hat ein eigenes Feeling, es ist wie eine Art kniffliges Puzzle. Und der Hörer sollte nicht dasitzen und bei jedem Song denken müssen: “Was?! Eben noch so, jetzt das?”
Andrea: Ich denke, jetzt funktioniert es. Aber viele Leute kommen zu uns und sagen, es sei merkwürdig, dass wir mit “The Nocturnal House” anfangen…

Was ja bei wirklich weitem nicht der zugänglichste Song darauf ist…
Andrea: Genau! Es ist auch insgesamt kein Album, das sofort ins Ohr geht, definitiv! Aber trotzdem wächst die Platte, wenn man ihr Zeit gibt.

Es gibt da dieses kurze “Interlude”, etwa zur Hälfte des Albums. Ist das als Ende der A-Seite gedacht, denkt ihr an Vinyl, wenn ihr eine Platte konzipiert?
Andrea: Oh ja, wir denken immer an Vinyl [Gelächter]. Das Stück entstand einfach aus einem Jam. Wir begannen vor einem Jahr damit, die Platte aufzunehmen – nicht die Platte, die jetzt herauskommt, sondern das, was unser drittes Album werden sollte. Und als wir mit der Hälfte durch waren, stellten wir fest, dass wir mit den Songs überhaupt nicht glücklich waren. Also schmissen wir alles komplett über Bord, verließen das Studio und gingen nach Hause, um völlig von vorne anzufangen. Wir behielten nur etwa drei Songs von denen, die ursprünglich vorgesehen waren. Einer davon ist “The Magic Hour” und dieses “Interlude” ist eigentlich ein Jam, den wir bei unserem ersten Besuch im Studio aufnahmen. Eigentlich lief damals alles falsch: Wir hassten es, waren mit dem Sound nicht glücklich, alles klang scheiße – und dieses Stückchen Musik gehört zu den wenigen guten Dingen, die dabei herauskamen. Wir spielten vor uns hin, auf einmal dachten wir: “Hey! Mach das Mikro an, hier funktioniert etwas!” [lacht]. Also behielten wir es.

Ihr erzähltet gerade, wie sehr ihr die ersten Versuche, dieses Album aufzunehmen, gehasst habt. Bereits während der Aufnahmen zum Vorgänger “The New Romance” gab es Gerüchte, die Band stünde kurz vor der Auflösung. Ist da etwas dran?
Andrea & Derek: Oh, ja. [lachen]

Ist das eine Art Ritual?
Derek: Daran habe ich noch gar nicht gedacht… [Andrea lacht]. Diesmal war es aber anders: Nathan hat die Band verlassen…
Andrea: Ja, weil er Vater wurde, da lief also nichts seltsames.
Derek: Genau. Aber wir restlichen Mitglieder beschlossen, die Platte zu viert zu schreiben, um uns danach ein neues Mitglied zu suchen. So haben wir es gemacht: Wir schrieben etwa zwölf Songs und entschieden uns dann für Leona als Ergänzung. Es war eine bewusste Entscheidung, keinen neuen Gitarristen hinzu zu holen, sondern jemanden, der andere Dinge konnte und einen neuen Vibe in die Band brachte. Also gingen wir nach New York um aufzunehmen und es ging schief. Wir waren nicht unglücklich mit der Band, wir dachten nur: “Diese Songs sind nicht so gut, wie sie sein könnten!” Und wir mochten die Platte nicht, wollten sie nicht so herausbringen, also schmissen wir sie über den Haufen und – jetzt kommt der Teil, der am schwersten war – mussten unserem Label ‘Matador’ gestehen [lacht]: “Hört zu, wir haben gerade unser gesamtes Budget für eine Platte verbraten, die ihr nicht zu hören kriegen werdet und die wir nicht herausbringen werden… Aber traut uns! Wir machen es noch mal, aber diesmal richtig!” Also gingen wir nach Hause, schrieben neue Songs…

Diesmal mit Leona?
Derek: Genau. Das war nämlich auch so eine Sache: Wir vier hatten zwölf Songs fertig, knallten sie Leona vor die Nase und sagten: Mach was draus! Ich meine, wir lassen nicht viel Freiraum übrig, wenn wir an etwas arbeiten…
Andrea: Ja, das waren im wesentlichen vollständige Songs, ohne großartige Möglichkeit für sie, sich einzubringen…
Derek: Wir sind eben sehr gründlich [lacht]. Und sie konnte eigentlich nur noch sagen: “Äh…” Und ehrlich gesagt: Ihr Input war letztendlich so wichtig, dass von den ursprünglich aufgenommenen Songs nur drei aufs Album gekommen sind. Nochmal so viele kommen vielleicht auf B-Seiten, aber den Rest, etwa die Hälfte also, haben wir einfach verworfen. Das ist schon ein merkwürdiges Gefühl – die ganze Zeit schreibt man, nimmt auf, und dann stellt man fest, dass es einfach nicht gut ist.

An welcher Stelle in diesem Prozess tauchte der Name “Elán Vital” zum ersten Mal auf?
Andrea: Erst kürzlich…
Derek: Ja, als alles fertig war, schien er einfach sehr gut zusammenzufassen, was wir gerade durchlebt hatten. Leona schlug ihn vor, und wir fanden, er passte. Drei intensive Jahre voller Veränderung, die wir hauptsächlich damit verbracht hatten, uns auf diese Platte zu konzentrieren. Es ist komisch, manchmal zweifle ich, denke: Jesus, es klingt, als würden wir uns selbst total wichtig nehmen…

Aber wenn man das Cover ansieht, relativiert sich dieser Verdacht des selbst zu ernst Nehmens schnell wieder…
Andrea: Genau! [lacht].

Wie kamt ihr auf die regenbogengefärbte Eiscreme?
Andrea: Auf diese Weise wollen wir dagegenhalten – zeigen, dass wir nicht ganz so verklemmt und ernsthaft sind… Tatsächlich war es ziemlich schwierig, ein passendes Artwork zu finden. Die Platte hatte kein zusammenhängendes Thema, keinen roten Faden – und weil es diesen Mix-Tape-Charakter hat…
Derek: Genau deswegen funktioniert das Eiscreme-Cover mit den Regenbogenfarben! [lacht]
Andrea: Stimmt! Und all das kommt von dieser alten Ramschladen-Tischdecke, die Nick in seiner Küche hatte. Wir fanden die toll, weil sie aussah wie eine alte Soul-LP.
Derek: Ja! Ich liebe das – und wenn man sich die Vinyl-Version ansieht, wo unser Name nicht draufsteht, nur dieses Bild zu sehen ist, dann sieht es wirklich aus wie eine alte Hot Chocolate-Platte [lacht]. Man kann sehen, dass es ein altes, späte Siebziger, sehr frühe Achtziger Pop-Art-Ding ist, diese… Sexy-Eiscreme-Waffel. Ich find’s super!

Ein kleiner Sprung zurück: Andrea, Du sprachst vorhin über das Schreiben der “Vocals”. Bezog sich das auf die Gesangslinien oder die Texte oder beides?
Andrea: Beides. Aber diesmal habe ich zwei Texte nicht geschrieben. Einer der großen Unterschiede zwischen diesem Album und den beiden davor besteht darin, dass in der Vergangenheit alles 100% kollaborativ war. Es war uns wirklich wichtig, dass alle Beteiligten jeden Aspekt gut fanden. Wenn nur eine Person etwas einzuwenden hatte, verwarfen wir die Sache. Deshalb haben wir über die Jahre so viele Songs weggeschmissen, dass es fast schon lächerlich ist. Ich denke, es ist Teil des Reifeprozesses, zu lernen, Kompromisse einzugehen. Das haben wir vorher nie getan! Diesmal haben drei verschiedene Mitglieder, Derek, Nick und Jay, jeweils einen Song komplett alleine geschrieben und in die Band eingebracht. In der Vergangenheit wäre so etwas nicht passiert…
Derek: Die meisten anderen Bands arbeiten immer so.
Andrea: Und wir schaffen es inzwischen auch, wenngleich nur bei drei Songs… Aber, um auf die Frage zurückzukommen, Derek und Nick haben auch die Texte zu ihren Songs geschrieben.

Welche sind das?
Derek: Ich habe “Pictures Of A Night Scene” geschrieben und singe es auch. Nick schrieb “The Number”, welches er gemeinsam mit Leona singt.
Andrea: Jay schrieb die Musik zu “Bullet Charm”, dem letzten Song, aber da konnte ich mir dann doch nicht verkneifen, einen eigenen Text zu schreiben [lacht].
Derek: Ich finde es auch sehr spannend, dass man hier zum ersten Mal die unterschiedlichen Einflüsse der einzelnen Mitglieder deutlich heraushören kann. Bei den Songs, die wir gemeinsam schreiben, sind immer diese vielen verschiedenen Ideen hineingestopft, da ist zum Beispiel eine New-Wave-Bassline neben einer Jazz-Gitarre zu hören; wohingegen es nun so ist, dass die ein oder andere Trennlinie gezogen wird, so dass man an manchen Stellen hören kann, was woher kommt und dann vielleicht denkt: Hmm, das ergibt Sinn. Zumindest geht es mir beim Hören so.

Tatsächlich wollte ich fragen, wer von euch für welche Einflüsse zuständig ist, wer was mitbringt. Ich schätze, ihr hört alle viel verschiedene Musik, aber wer ist der Jazzer, wer der Dub-Head etc.?
Derek: Ja, wir hören alle viel Kram, aber man kann es im Groben schon so sagen, dass Jay die Jazz-Einflüsse und -Strukturen mitbringt, wohingegen ich mehr von New-Wave beeinflusst bin, aber auch Dub-Basslines bevorzuge. Nick ist für die Schrägheiten verantwortlich – er ist zum Beispiel großer Fan von obskurem französischen Pop oder von Girl-Groups. Nick ist auch derjenige, der auf einmal vorschlägt, eine vierstimmige Gesangs-Harmonie auszuprobieren, im Barbershop-Stil…
Andrea: …oder in einem anderen Song wollte er eine Harmonie haben, die stellte er sich das im Abba-Stil vor…

Sagtest du gerade Abba?
Andrea: [lacht] Ja, das schwebte ihm zumindest vor – auch wenn am Ende etwas anderes herauskam…
Derek: Ich zum Beispiel mag lineare, sich wiederholende Basslines, und Jay bevorzugt lange, sich entfaltende Arrangements mit merkwürdigen Tempo-Wechseln. Leona, mit der wir ja für diese Songs zum ersten Mal zusammenarbeiteten, bringt viel von dem, was die Leute als “düster” wahrnehmen mit. Wir haben wirklich schon einige Male zu hören bekommen, dass das Album sehr düster wirkt. Manchmal klingen unsere Songs am Anfang schneller, als sie eigentlich sind. Und dann kommt sie mit ihren Keyboard-Parts und es klingt unheimlicher, schwerer. Es ist schon merkwürdig, wie unterschiedlich wir alle sind – und trotzdem puzzelt es sich alles zusammen.

Interview/Text: Torsten Hempelt