Diese Band wirft lange Schatten. Mit dem, was sie komponiert und produziert hat, ließe sich eine ganze Winterdepression vertonen. Zehn Jahre nach ihrem Debütalbum lüften Sigur Rós den eigenen Mythos und veröffentlichen mit “Heima” eine Tourdokumentation. Aufmerksame Zeitgenossen merken sofort, hier stimmt etwas nicht!
Im letztjährigen Sommer waren Sigur Rós auf dem Zenit ihres Schaffens angekommen. Jeder isländische Einwohner besaß laut repräsentativer Umfragen mindestens einen Silberling des Quartetts, ihr amerikanischer Plattenvertrag beinhaltete mehr Narrenfreiheit als der von Kollege Sting und die weltweiten Fernsehshows wurden zum zweiten Zuhause der Mannen um Sänger Jón Thór Birgisson. “Danach hieß es für uns alle: Runterkommen! Das ist nicht leicht. Also haben wir uns eine Tour durch Island überlegt, unangekündigt und ohne großen Aufwand”, erzählt Keyboarder Kjartan Sveinsson zurückblickend. Das Ergebnis dieser spontanen Konzertreise kann man dieser Tage auf einer DVD namens “Heima” bewundern: Ein Konzertfilm, der nicht die üblichen Klischees erfüllt und mehr wie ein vertonter Reiseführer durch Island wirkt, als wie ein Dokument aus Drogen, Suff und anderen Entgleisungen.
‘Heima’ Film-Trailer
“Es war uns wichtig, dass sich der Film von den üblichen Banddokumentationen abhebt und unsere Grundzüge zeigt: Wir sind keine Partyhengste oder Groupies abschleppende Rockstars. Bei Sigur Rós geht es um das Wesentliche, die Musik.” Es ist auch schwer vorstellbar, dass bei diesem Quartett Backstage die Strickpullis und Wollmützen vor lauter Wollust durch die Gegend fliegen und am nächsten Morgen eine Reihe weiblicher Fans wild zerzaust den Tourbus verlässt. Zehn Jahre nach ihrem ersten Silberling “Von” haben Sigur Rós genau das Gegenteil mit ihrer Musik erreicht: Der Sound und die Macher dessen wirken weltentrückt, versetzen die Hörer in eine Stimmung aus Melancholie und Wohlempfinden – schwer zu beschreiben und doch fühlbar. “Viele sind der Überzeugung, hier in Island verstünde man Sigur Rós mit ihrer Musik besser. Völlig falsch, denn alleine meine Großeltern fragen mich nach jedem Album: Junge, warum klingt das alles so traurig bei euch?”, berichtet Kjartan und schenkt mir das einzige Lächeln im gesamten Gespräch.
Zum Film erscheint parallel ein Doppelalbum namens “Hvraf/Heim”. Übersetzt bedeutet das soviel wie Hafen oder auch Heimat.
Kjartan Sveinsson: Unser erstes eigenes Studio in Reykjavik hieß Hvarf. Damit verbinden wir auch heute noch viele Erinnerungen. Es erschien uns daher einfach schlüssig, zehn Jahre nach dem ersten Werk eines der neuen Alben danach zu benennen. (überlegt) Mir persönlich ist es aber wichtig, dass die Leute “Hvarf/Heim” nicht als ein Best Of begreifen: Die elektrischen Songs auf der ersten CD, sowie die akustischen Remakes auf der zweiten Platte sind komplett neu aufgenommen – auch wenn es sich bis auf drei Songs um älteres Material handelt, es ist ein Album wie jedes andere von uns.
Das Doppelalbum ist sozusagen der Soundtrack zum Film? (zustimmendes Nicken) Gedreht wurde dieser von einem recht Genre-fremden Regisseur: Dean BeBlois ist der Macher von “Lilo & Stich” gewesen. Wie kam es zur Zusammenarbeit?
Kjartan Sveinsson: Wir legten viel wert darauf, dass der Regisseur der Band komplett freie Hand lässt und nicht ständig seinen Kopf durchsetzt. Dean lernten wir auf einem Film-Festival kennen. Als wir ins Gespräch kamen, redeten wir fast nur über Musik und Dean meinte, er würde gerne mal etwas für uns drehen. Das passte zum damaligen Zeitpunkt super, denn wir überlegten gerade die Island-Tour filmen zu lassen und hatten bei ihm als Regisseur ein gutes Gefühl. Vom dem Ergebnis sind wir alle begeistert!
Den Abschluss dieser Tour bildete das größte Open-Air-Konzert in der Geschichte Islands. Habt ihr euch da einen Moment wie Rockstars gefühlt?
Kjartan Sveinsson: Dazu kommst du in Island nicht, glaub mir. Die Leute hier sind alle total bodenständig und haben auch keine Lust auf irgendwelche Starallüren. Auf der Straße musste ich seit unserer Gründung vielleicht 20 Autogramme geben – und ich bin viel unterwegs! (denkt nach) Nicht mal Jóns Großeltern haben das Konzert gesehen, obwohl es im isländischen Fernsehen übertragen wurde: Sie erzählten im Nachhinein, dass sie ihren Wecker zu spät hörten und Probleme mit dem Fernseher hatten. Was sie nicht wussten: Es war unsere letzte Zugabe und wir haben alle Gitarren durch Verzerrer gejagt.
Dieses unkonventionelle Musikverständnis hat bereits mehrere Nachfolgebands geprägt und blieb trotz etlicher Versuche unerreicht. Der Longplayer “Hvarf/Heim” und die DVD “Heima” beweisen einmal mehr: Der Sound von Sigur Rós klingt so gewohnt ungewohnt, dass noch Generationen davon zehren können!
Text: Marcus Willfroth
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