Das Sonar Festival in Barcelona präsentierte zum 19. Mal elektronische Musik zwischen Pop und Experiment. Knapp 100.000 Besucher feierten dieses Jahr zu mehr als 150 Acts an drei Tagen und Nächten.
Tagsüber am Museum für zeitgenössische Kunst direkt im wunderschön verwinkelten Stadtzentrum, und nachts in den riesigen Messehallen der Fira Barcelona beheimatet, ist das Sonar schon seit langem ein Klassiker der europäischen Festivallandschaft. Ein Line-up, das von den heißesten Newcomern über arrivierte Klassiker bis zum Freakigsten der experimentellen Szene ein nicht enden wollendes Spektakel versprach, lockte eine internationale Meute an (Musik-)Junkies in die Mittelmeermetropole. 60% Ausländer waren laut Veranstaltern dieses Jahr dabei, laut inoffiziellen Schätzungen davon maximal 10% längerfristig nüchtern. Das lag sicherlich auch daran, dass sich rund um das Sonar Festival über die Jahre eine unglaubliche Menge an hochkarätigen ‘Sonar Off-Parties’ entwickelt hat, die zusätzlich zum üppigen Festivalprogramm täglich mit niedrigen Eintrittspreisen, großen Namen und teils wunderschönen Locations am Meer Hipster, Hippies und alles dazwischen anlocken.
Das Sonar Festival hat sich als selbstbeschriebenes ‘Festival of Advanced Music’ dem musikalischen Fortschritt und Entdeckungsgeist verschrieben. Was sich überheblich anhört, konnte im Tagesprogramm speziell der von der Red Bull Music Academy präsentierte SonarDome einlösen. Im selbst bei brütender Hitze angenehm kühlen Zelt gab es zahlreiche Neuentdeckungen zu bestaunen: die Wahlmexikanerin Andrea Balency zum Beispiel verzauberte mit magischen Pop-Momenten irgendwo zwischen Elektronik und Folklore, während das italienische Trio Esperanza eine unheimlich tanzbare Mischung aus Detroit Techno, 60er Psychadelica und sphärischem Wüstenrock zusammenbraute. Bassmusik englischer und amerikanischer Schule war zwar auf dem Sonar in jedem zweiten DJ-Set vertreten, doch selten so überzeugend wie beim Konzert der 2011er Durchstarter Nguzunguzu. Das Duo aus Los Angeles zog mit großer Bühnenpräsenz und einem wummernden Arsenal an Chicago Footwork und R’n’B selbst die wenigen hüftlahmen Festivalbesucher auf die Tanzfläche.
Experimentellere Töne gab es hingegen im SonarComplex zu hören, einer beeindruckenden, umgebauten Kirche. Lolo & Sosaku schufen mit zahlreichen selbstgebauten Instrumenten aus Pendeln ein klangliches Perpetuum Mobile, dessen meditatives Hintergrundrauschen für einen der wenigen ruhigen Momente des Festivals sorgte. Der japanische Musiker Masaki Batoh hingegen warnte bereits vor seiner heiß erwarteten “Brain Pulse Music”. Und tatsächlich ließen seine aus den Gehirnwellen und dem Puls einer Assistentin generierten Geräusche das Publikum irgendwo zwischen fasziniert, verstört und einem sichtbaren ‘wtf?!’ zurück. Der positiven Gehirnschmelze näherten sich auch die beiden deutschen Glitch-Ikonen Alva Noto und Byetone. Auf deren mit einer modifizierten Halogenlampe begleitetes Störgeräuschfeuer folgten die Local-Heroes The Suicide Of Western Culture. Namensgerecht dunkle Post-Pock und Elektronikfetzen, gerahmt von bedrückenden Visuals, verwoben sich zu einem betörenden dichten und vielschichtigen Klanglabyrinth, das vom begeisterungsfähigen Publikum gebührend gefeiert wurde.
Bereits Donnerstagnachmittag hatte Daedalus mit seiner ‘Archmides Show’ ein erstes akustisches und visuelles Highlight gesetzt. Dreizig dreh- und schwenkbare Spiegel plus Lasershow plus ein dreckiges Mashup aus viel Bass und IDM waren das Rezept, um die Handys in die Höhe schnellen zu lassen. In der riesigen Messehalle des SonarClub brannte Freitagnacht dann Amon Tobin ein Effektfeuerwerk sondergleichen zu seinem 2011er Album “ISAM” ab. Im Herzen einer riesigen, aus weißen Quadern bestehenden Struktur platziert, erschuf der brasilianische Produzent durch detailverliebte Projektionen spektakuläre Bühnenwelten. Geometrisch ging es auch bei Squarepusher zu. Der Altmeister der zerstückelten elektronischen Beats beeindruckte mit einem beleuchteten Robocop-meets-Daft Punk-Helm und einer in blitzenden Schwarz- und Weißtönen gehaltenen Liveshow zu den Klängen seines brandneuen Albums “Ufabulum“. Wer den epileptischen Anfall noch unterdrücken konnte, bekam dazu beim mit aufgeputschten Ravern vollgepackten Sonar Autoscooter, unterlegt mit treibenden Technobeats, erneut Gelegenheit.
Dass musikalischer Fortschritt sich aus der Beziehung zur Vergangenheit nährt, erklärt wohl auch die Verpflichtung von New Order und Fatboy Slim beim diesjährigen Sonar. Doch New Order, mittlerweile allesamt in ihren 50ern, hielt in einem hitgespickten Set das Nostalgie-Level hoch, und bewies ein für alle mal die Zeitlosigkeit und den Mitgrölfaktor von Songs wie “Blue Monday” oder dem Joy Division-Cover “Love Will Tear Us Apart”. Fatboy Slims von Tonproblemen begleitete, egomanische Show hingegen bot zwar so einige der Superhits des Rave-Urgesteins, erinnerte aber dann doch zu sehr an schlechten 90er Kirmestechno und hirnlose Hüpfdohlen á la H.P. Baxxter. Trash, aber auf hohem Niveau, vertonten dafür die Südafrikaner von Die Antwoord. Die an Deichkind erinnernden, selbstbezeichneten Zef (Proleten) brachten mit ihrem Elektro-Rap die vollgepackte Halle zum Kochen, und zeichneten sich mit “Orinoco Ninja Flow” noch dazu für den wohl besten Enya-Remix aller Zeiten verantwortlich – Sail Away Mothafuckaz!
Ähnliche Begeisterungsstürme entfachte Lana del Rey nur ganz zu Anfang ihres heiß erwarteten Konzertes. Doch trotz vieler Vorschusslorbeeren, allen Hits, neuen Liedern und Unterstützung eines Streichquartetts blieb die US-Amerikanerin so handzahm und blass wie in ihren Videos. An der hochgelegten Messlatte scheiterte auch Nicolas Jaar, dessen Live-Show auf der Open-Air Bühne Freitagnacht irgendwo im Nirgendwo zwischen Tanzfläche und Chill Out Area steckenblieb. Am Samstagnachmittag dagegen, bei nach durchfeierter Nacht noch höherer Sonnenbrillendichte als sonst, trafen die langsam groovenden Beats seines Nebenprojekts Darkside den richtigen Puls.
Jesse Boykins III (Sonar Session)
An gleichem Ort und Stelle hinterließ die Brainfeeder Showcase, angeleitet von dem dauerbreit grinsenden Mastermind Flying Lotus, einen gemischten Eindruck. Während Flying Lotus und Lapalux mit dumpfen Bassorgien die teilweise grandiosen letzten EPs und Alben nicht so recht live umsetzen konnten, lieferte Thundercat am Bass mit Unterstützung des genialen Jesse Boykins III am Mikro eine astreine Space-Funk Show ab. Absolut live und unprogrammiert präsentierte sich auch die Elektro-Supergroup rund um Mikrofongott und Soulpionier Jamie Lidell mit dem von Native Instruments unterstützten Mostly Robot Projekt. Zwischen Live-Improvisationen, futuristischen Klängen, großen Entertainer-Qualitäten und sogar 2Pac-Covers lies sich eine Zukunftsvision erkennen, wie elektronische Musik und Live-Performances überzeugend in Einklang gebracht werden könnten.
Aber egal wie diese Zukunft aussieht, motor.de wird auch im kommenden Jahr wieder dabei sein. Denn speziell zum 20. Jubiläum des Festivals wird man erneut vergeblich ein so hochkarätiges Line-Up in einer so begeisternden Stadt suchen.
Fotos und Bericht: Tobias Koesters
No Comment