Zu dem Zeitpunkt, ab dem sie sich The Icarus Line nannten, hatten unsere Helden schon mehrere Highschool-Jahre hinter sich, in denen sie in verkackten Kleinbussen herumgurkten, um in verkackten Kacklöchern aufzutreten. Ich muss es wissen, schließlich war ich eines dieser verkackten Kids, welche sie damals in einem dieser Kacklöcher sahen, als sie vor nunmehr 7 Jahren in einem Café in meiner Heimatstadt in Idaho auftraten. Damals hießen sie noch Kankersores, doch nachdem ihr damaliger Drummer und ein enger Freund der Band bei einem Verkehrsunfall ums Leben kamen, legten sie diesen Namen ab. Ihren ersten Auftritt als The Icarus Line hatte die Band 1998 in New Jersey. Zuvor waren sie mit Aarons Pickup-Truck den ganzen weiten Weg von Los Angeles bis an die Ostküste gefahren, um dort eine Band namens Ink & Dagger zu treffen, der sie dann, wiederum in ihrem Truck, auf einer Tour durchs ganze Land folgten. Der Zufall wollte es, dass der Typ bei Ink & Dagger, der sich dazu breitschlagen lassen hatte, eine gänzlich unbekannte Band mit auf Tour zu nehmen, die zudem bis dato noch nicht ein einziges Konzert gespielt hatte, und der dieser Band auch noch jeden Abend die Technik seiner eigenen Kapelle zur Verfügung stellte, kein Geringerer war als Don Devore, der jetzige Bassist von The Icarus Line. In der Folgezeit veröffentlichte die Band innerhalb kürzester Zeit mehrere Singles auf diversen Indie-Labels (Hellcat, NewAmericanDeam, Crank!). Das erste Icarus Line-Album „Mono“ erschien auf dem bandeigenen Label Buddyhead zu einem Zeitpunkt, als alle Beteiligten gerade mal 21 Jahre alt waren. Die Platte erhielt ausgesprochen gute Rezensionen in diversen
Rock-Publikationen, und auch BBC-DJ-Legende John Peel schloss die Band ins Herz. Es folgten eine Reihe von Aufnahme-Sessions für John Peel und BBC Radio One, sowie 2 Jahre ununterbrochenen Tourens, die die Band an alle Ecken der Welt führten. The Icarus Line traten bei den Festivals in Reading, Leeds, Roskilde und beim Summersonic-Festival auf – um nur einige zu nennen – und tourten mit Bands wie den Yeah Yeah Yeahs, A Perfect Circle, Primal Scream, Queens Of The Stoneage, You Will Know Us By The Trail Of Dead und vielen, vielen anderen. Am Ende dieser zweijährigen Ochsentour stand die Band am Scheideweg. In einem Aufwasch feuerten sie ihren Manager, ihren Booking Agent, ihren Anwalt und ihre Rhythmus-Sektion. Plattenfirmen, die ein Interesse für The Icarus Line bekundeten, schickten sie als Antwort ihr neuestes Demo, einen 12 Minuten (!) langen Song.

Die Verantwortlichen kamen schnell zu dem Schluss, dass es sich bei dieser Band um zu schräge Vögel handeln würde, als dass man mit ihnen ernsthaft Geld verdienen könnte, und so plante die Band, auch ihr nächstes Album wieder selbst zu veröffentlichen. Allerdings nur bis zu dem Zeitpunkt, an dem V2 ihr Interesse an den Jungs anmeldeten und diese gleichzeitig wissen ließen, dass sie unter ihrer Obhut tun und lassen konnten, was sie wollten und wie sie es wollten. Also wurden Papiere unterschrieben, Seelen verkauft, und bald darauf war die Band in verschiedenen Studios in Los Angeles anzutreffen, wo sie in Eigenregie (nur mit Unterstützung des befreundeten Tontechnikers Mike Mussmano) ihr zweites Langspiel-Werk produzierten. Im Sommer letzten Jahres beendete die Band dann die Arbeiten am Album in London, und mixte die Platte anschließend unter Mithilfe von Alan Moulder (My Bloody Valentine, The Jesus And Mary Chain, Nine Inch Nails, Smashing Pumpkins, Yeah Yeah Yeahs etc. etc.) ab.

Wie die meisten wirklich originellen Bands hatte The Icarus Line mit Widerständen zu kämpfen, sie wurden beschimpft, verspottet, Kritiker begegneten ihnen mit herablassender Gönnerhaftig- oder auch offener Feindseligkeit. Doch die meisten dieser Nörgler verstummten, nachdem sie zum ersten Mal „Penance Soiree“ hörten. Hast du auch so lange darauf gewartet, dass endlich eine Band auftaucht, die all das in sich vereint, worum es bei Rock´n´Roll ursprünglich mal ging? All den coolen Scheiß, von dem man ständig im „Mojo“ liest? Du weißt schon, Sachen wie Gefahr, Aufregung, touren, touren, touren, Sex, Drugs & Rock´n´Roll. Nun, jetzt hast du sie gefunden. Ich habe mit eigenen Augen gesehen, welche Auswirkungen es hat, wenn man die Jungs von The Icarus Line bis zum Äußersten treibt. Das Resultat waren ausgewachsene (und auf Tourneen durchaus übliche) Katastrophen. So wurde die Band z.B. von aufgebrachten Veranstaltern aus der Stadt gejagt, hat sich handfeste Auseinandersetzungen mit Sound-Mixern und Crew-Mitgliedern geliefert, wurde verhaftet und verklagt, hat komplette Bühnen und Backlines zerstört und einmal auch den Gitarrenkoffer von Stevie Ray Vaughn aufgebrochen (irgendwie schien es ihnen unangebracht, eine derart schöne Gitarre wie besagte nicht auch zu nutzen). Letztgenannter Vorfall hatte zur Folge, dass die Band mehrere Morddrohungen erhielt (wie sich herausstellte, ist Herr Vaughn in Texas sehr beliebt). Aber wir wollen auch kein zu düsteres Bild malen. Die Jungs haben durchaus auch Spaß, wenn sie unterwegs sind, auch wenn dieser häufig auf Kosten anderer geht (aus irgendeinem Grund bereitet es The Icarus Line besonderes Vergnügen, die Tourbusse anderer Bands mit Graffitis zu verzieren).

Hinter jedem Wort, das Frontman Joe Cardamone auf „Penance Soiree“ ins Mikrofon singt, spuckt oder auch schreit, scheint ein bösartiges Grinsen zu lauern. Irgendwie ähnelt er dabei dem Anführer einer üblen Jugendbande, der seiner Armee von gewalttätigen Taugenichtsen per Telefon die Einzelheiten des nächsten Schurkenstreiches erläutert. Wenn du nicht aufpasst, kann es passieren, dass dich sein wild herumschwingendes Mikrofon trifft, oder auch seine Gitarre, die er offenbar ganz willkürlich ins Publikum schleudert. Hinter ihm steht eine Band, bestehend aus Aaron North, Alvin DeGuzman, Don Devore und Jeff „The Captain“ Watson, die rauh, knirschend und unberechenbar klingt, dabei aber zu jeder Sekunde rhythmisch genau auf den Punkt kommt. Aber ACHTUNG: The Icarus Line sind in der Lage, es mit jedem Publikum aufzunehmen, ganz egal, was für teuflisch charmanten Bullshit sich dieses auch einfallen lässt. Die Jungs stehen drauf, dich umzuhauen und bis in die hinterste Ecke des Raums zu blasen, während sie Jagger-mäßig einen auf dicke Hose machen. Oft mischen sich Mitglieder der Band unters Publikum um zu schauen, was so abgeht, und selbst wenn sie auf der Bühne stehen, lassen sie ihre stechenden, rot beschmierten Augen über die Zuschauermenge schweifen, immer auf der Suche nach aufmüpfigen Zwischenrufern.

Hey, du da im Publikum… das ist deine Bühne genauso wie ihre, und wenn du sie ihnen streitig machen kannst…ok, Alter, dann nur zu! Ich wünsch dir dabei viel Glück, denn wer dort oben stehen und das Zepter schwingen will, muss das Tempo mit- und die Autorität behalten, und dazu sind nur sehr wenige in der Lage. Was das betrifft, sind The Icarus Line eine Ausnahmeerscheinung. Sie haben sich die Bühne erobert, und allein die Kraft der eigenen Präsenz gibt ihnen das Recht dazu. Diese Band, die die ganze Welt bereist, ist offen für alles. Vergeh dich ruhig, Kumpel, und ahme The Icarus Line nach! Es ist dein Abend, Alter! Du denkst: „Mann, ich könnte auch da oben stehen und den Macker machen.“ OK, das ist deine Chance… aber du wirst sie kaum nutzen können. Die Leute starren und staunen, die meisten drängen sich vorne am Bühnenrand, und das, obwohl in der ersten Reihe die Gefahr am größten ist. Hey Kids, das ist was anderes als den Affen im Zoo beim Kacken zuzuschauen, und zwischen euch und den Tieren gibt es keine Gitter. Wenn ihr euch ihnen nähert, geschieht das auf eigene Gefahr, und es kann durchaus passieren, dass ihr im allgemeinen Gewühl Gliedmaßen oder andere Organe einbüßt.
Man kann wohl mit Fug und Recht behaupten, dass es sich bei The Icarus Line um eine Band handelt, bei deren Anblick sich deine Mutti zu Tode erschrecken würde…

Travis Keller V2