Das erste, was man mit Finnland assoziiert, ist sicher nicht unbedingt Rock-Musik. Vielmehr denkt man an dunkle kalte Winter, den Weihnachtsmann und vielleicht noch Motorsport! Dennoch hat dieses dünn besiedelte Land einiges an musikalischen Hochkarätern vorzuweisen, vornehmlich aus der dunklen bis tiefschwarzen Seite des musikalischen Spektrums, deren Erfolg sich nach bester skandinavischer Tradition umgekehrt proportional zur Bekanntheit des Herkunftsortes verhält – man denke nur an HIM, Apoclyptica, The Rasmus und nicht zuletzt die maskierten Halleluhjah Hard-Rocker und Grand-Prix-Triumphatoren von Lordi.

Okay klar, so richtig cool ist das alles nicht. Die Sparte des Punk/HC-basierten Rock mit Emo-Einschlag nach amerikanischem Vorbild Marke Warped-Tour schien dort bisher sowieso sträflich unterbesetzt, wenn nicht gänzlich inexistent zu sein. Aber damit könnte es nun vorbei sein. Vier Jungs aus Helsinki schicken sich an, diesen Missstand endlich zu beheben und das Genre in ihrer Heimat aus dem Dornröschenschlaf wachzuküssen.

Mit der Wiederveröffentlichung des zweiten Albums ‘First Aid Kit’ könnte es nun endlich auch außerhalb der Heimat gelingen, den grauen Mantel mit der Aufschrift ‘Geheimtipp’ abzustreifen, den sie sich mit ihrem vielversprechenden aber noch etwas unausgegorenen Debüt ‘Viper Ethics’ und hoher Livepräsenz hart erarbeitet hatten. Die Zeit scheint reif für höhere Weihen. Mit Songs der Marke ‘This Is My Head Exploding’, ‘We Might Fall Apart’ oder der neuen Single ‘Drop Dead Casanova’, die das Album einer Kampfansage gleich eröffnen, könnte es gelingen, zur lange Zeit unangefochtenen Spitzengruppe des Dreigestirns Taking Back Sunday, Billy Talent und My Chemical Romance aufzuschließen.

Unkomplizierte Strukturen, treibende Riffs und feine Melodiearbeit sind die großen Trümpfe des Quartetts, das seinen Stil endgültig gefunden zu haben scheint. Dass dieser nicht ganz neu ist, man so nicht unbedingt gegen das Vorurteil der hoffnungslosen Amerikanisierung Skandinaviens ankämpfen kann und sich zudem einer zahlenmäßig fast übermächtigen Konkurrenz aus Übersee gegenüber sieht, ist der Band durchaus klar, wie Gitarrist Jussi und Drummer Mikko im Hinterhof des neuen Berliner Lido-Clubs zu Protokoll geben.

Dennoch zeigt man sich von den eigenen Stärken überzeugt und gibt man sich äußerst selbstbewusst. “Uns ist natürlich schon bewusst, dass wir nichts völlig Neues machen, aber ich glaube, dass wir in dem, was wir machen, schon ziemlich gut sind. Für uns ist es einfach wichtiger dass ein Song funktioniert als die abgefahrensten Sachen auszuprobieren.”

Das kommt natürlich besonders den Live-Qualitäten der Band zugute, mit denen sie Fans wie Kritiker immer noch am leichtesten überzeugen können. Dass die laut Eigenaussage “drei größten Einflüsse” Metallica, At The Drive-In und Refused dabei nicht unwesentlich auf den Sound der vier abfärbten, scheint natürlich naheliegend.

Überhaupt Refused: Wie bei so ziemlich allen skandinavischen Bands aus diesem Bereich war vor allem die legendäre 95er Tour der Umeå-Helden zusammen mit den nicht minder einflussreichen Snapcase ein einschneidendes Erlebnis. “Das war etwas völlig Neues für uns. Der Sound, der Stil, die Energie, die Message. Wir kommen ja ursprünglich aus Pori, einer kleinen Stadt direkt an der schwedischen Grenze, diese ganze Entwicklung dort hatte enormen Einfluss auf uns. Auch bei uns hat sich eine kleine Szene entwickelt, auch wenn wir nie wirklich Teil dessen waren, wir waren immer eher die Nerds, die ihre Instrumente beherrschen”, lacht Jussi, der dank seiner schmächtigen Figur, der geschwärzten Kurzhaarfrisur und der Streberbrille irgendwie eher nach Informatikstudent aussieht als nach Rock-Star – und der nicht ohne einen süffisanten Unterton der Selbstzufriedenheit hinzufügt: “Aber diese Szene und alle ihre Bands sind lange tot, uns gibt’s immer noch!”

Und das mehr denn je, schließlich wird der Band allerorten der baldige große Durchbruch prophezeit. Besonders in England sind seit längerem von der einschlägigen Presse Lobeshymnen zu vernehmen, die man so sonst eigentlich nur über die dort heimischen Bands hört. Insbesondere das große Kerrang!-Magazin tut sich hervor, die Band zu einer der vielversprechendsten Newcomer des Jahres zu küren. Doch Jussi wiegelt ab: “Das ehrt uns natürlich schon irgendwie, andererseits sind Kritiken ob positiv oder negativ für uns nicht wirklich interessant. Denn ich finde, wenn jemand unsere Songs hört oder zu unserer Show geht und sich hinterher kein bisschen anders fühlt, ist alles andere egal.”

Ambitioniert wirkt die Band allemal, egal ob live, wie kurze Zeit später auf der Bühne des Lido, wo sie mit ihrer explosiven Performance selbst die skeptischsten Showcase-Besucher zum anerkennenden Mitwippen animieren, oder als Konserve im heimischen CD-Player. Die Songs von ‘First Aid Kit’ verbinden die Punkrock-Energie der Anfangstage perfekt mit der Effektivität und Eingängigkeit eines Pop-Songs. Intro, kurze abgedämpfte Strophe, Break und Mitsing-Refrain! Klingt einfach und berechenbar? Funktioniert hier trotzdem wunderbar und wird kein bisschen langweilig! Besser hat das selten jemand in letzter Zeit auf den Punkt gebracht. Bis auf wenige Ausnahmen könnte man wirklich jeden Song als potentielle nächste Single vorstellen.

Bleibt nur zu hoffen, dass die Platte beim zweiten Anlauf diesmal die Aufmerksamkeit erlangen kann, die sie verdient. Sollte die Band dieses Level an Energie und Hitqualität halten können, darf man noch auf große Taten hoffen. Es muss ja nicht gleich der Grand Prix sein.

Text: Thomas Müller