Die Geschichte der Hamburger Schule lehrt, dass die Karrieren vieler wegbereitender Künstler der Verdienst einer erfolgreichen, an strikten Verweigerungsprinzipien orientierten Philosophie war. Als deutscher Independent verschrien, kanzelten sich bald viele Bands von diesem Konzept ab und verfolgten ihren eigenen Weg. Blumfeld-Sänger Jochen Distelmeyer war einer der Ersten, die meinten: Prinzipen ja, aber nicht um jeden Preis.
Es ist das Jahr 1999, als “Old Nobody” erscheint und die Fangemeinde in zwei Lager spaltet. Während viele auf Grund des popmusikalischen Unterbaus die Nase rümpfen, empfinden es die anderen als eine neue Definition deutschsprachiger Indie-Musik. Drei Alben später, mit dem neuen, sechsten Werk “Verbotene Früchte”, verfolgen Blumfeld ihren Stil immer noch auf das Konsequenteste. Gesprächsstoff genug, um Sänger und Gitarrist Jochen Distelmeyer einmal zu den Kernthemen seiner Combo zu Wort kommen zu lassen.
Bandmitglieder
Jochen Distelmeyer: Die Besetzung der Band hat sich in den vergangenen Jahren sehr verändert. Während beim letzten Album “Jenseits von Jedem” unser damaliger Bassist Peter Thiessen ausstieg, um sich seiner Band Kante voll und ganz widmen zu können, mussten wir diesmal von Keyboarder Michael Mühlhaus Abschied nehmen. Er bekam Masha Qrella, NMFarner und Blumfeld einfach nicht mehr unter einen Hut. Daraufhin haben Michael und ich uns entscheiden, getrennte Wegen zu gehen. Für ihn kam Vredeber Albrecht, der uns live schon oft unterstützte, sowie der Veranda Music-Bassist Lars Precht. Ich hoffe, die nächste Platte entsteht ohne konzeptionelle Änderungen in der Bandbesetzung.
Botschaften
Bei all unseren Platten gibt es hervorstechende Momente. Inhalte, die sich ins Ganze einfügen und miteinander verschmelzen. Ich verfolge beim Songwriting jedoch nie ein Hauptthema, unter dem die Texte entstehen sollen. Sicherlich ergibt sich am Ende eines Arbeitsprozesses so etwas wie eine Überschrift, die sich von Lied zu Lied herausschält. Diese sollen die Hörer aber für sich selbst herausfinden, schließlich will ich niemanden etwas vorschreiben.
Die Welt lesbar machen
Unser Album “Verbotene Früchte” unternimmt, wie all die Werke davor, den Versuch, die Welt zu beschreiben, damit sie lesbar wird. Der Unterschied zu unseren ersten Platten ist nur der, dass ich glaube sagen zu können, die Welt ist nicht lesbar und sie wird auch nie vollkommen lesbar sein. Trotzdem versucht man es. (überlegt) Das könnte ein Ansatzpunkt darstellen, unter dem auch der Titel des neuen Albums zu verstehen ist und liefert vielleicht eine Antwort auf die Frage: Was genau sind diese “Verbotenen Früchte”, die ihr da meint?!
Sozialkritik
Ich kann mich noch erinnern, dass ich nach unserem vierten Album “Testament Der Angst” das Gefühl hatte, der politische Raum sei inzwischen vollkommen entpolitisiert. Leider hat sich das Gefühl auch nach der Rot-Grün-Ära nicht geändert. Es gibt inzwischen keine Position der Kritik, die gesellschaftlich relevant wäre. Diesen Zustand wollte ich auch mit unserem neuen Album beschreibbar machen. Dabei geht es um eine ganz bestimmte Sichtweise, unter der Gesellschaftskritik noch möglich ist. Genau dieser Hintergrund, dass die repräsentative Demokratie keinen mehr interessiert, beeinflusste auch maßgeblich das Lied “Tics”. Es drückt aus, was ich unter Kritik verstehe: Erst einmal einfordern, bevor man Fragen beantwortet, wie das denn gehen soll. Man muss einfach sagen können: Ich will aber in einer Zivilisation leben, die nicht darauf aus ist, dass es eine Schnittmenge zwischen Arm und Reich gibt, nur damit die Gesellschaft funktioniert. Ich finde, das muss sagbar sein.
Wohlfühlzustand und Naturlyrik
Viele sehen in den letzten beiden Platten so einen Moment, in der Natur lyrisch verarbeitet werden soll. Sowohl der Opener “Sonntag” von “Jenseits Von Jedem” als auch “Tiere Um Uns” vom neuen Album gehen nicht in diese Richtung. Ich glaube, dass der Begriff “Naturlyrik” an sich schon einen Widerspruch darstellt. Die Natur selbst besitzt nichts Lyrisches, sondern bekommt dies durch den Menschen verliehen. (längere Pause) Es geht mir eher um einen Wohlfühlzustand: Ich finde es einfach herrlich, in die Natur zu fahren und dort die Tiere zu beobachten. Das ist eher die Motivation, auch mal Texte außerhalb der üblichen Standards zu verfassen. Von einem “lyrischen” Zustand kann dabei aber nicht die Rede sein, dieses mit Reinheitsversprechen verbundene Ideal ist Quatsch.
Liebe oder der Versuch, Gefühle in Worte zu fassen
Man muss kein Liebeslied schreiben, um Liebe auszudrücken. Auch ein Song, in dem es um etwas ganz anderes geht, kann sich dem Thema Liebe widmen. Alleine der Versuch, Gefühle zu beschreiben und in Worte zu fassen, kann ausreichen. “Atem Und Fleisch” schlägt möglicherweise eine solche Richtung ein. Die Liebe, wie sie dort auftaucht, bestimmt auch das Verhältnis, das ein jeder zur seiner Umwelt einnimmt. Damit erreicht der Text eine ganz neue Ebene: Ein der Welt und dem Menschen zugewandtes Sprechen wird deutlich. Das bezeichne ich auch alles mit, wenn ich Gefühle wie Liebe thematisiere. Ein äußerst schwieriges Unterfangen. (lacht)
Trilogie des Selbst
Die letzten drei Alben gehören für mich eigentlich zusammen. Es gibt mehrere Punkte, an denen es Überschneidungen gibt. So befassen sie sich alle mit dem Thema des “sich selbst Seisn”. Ich würde aber nicht sagen, dass dies so geplant war, eher höre ich musikalisch und textlich gewisse Merkmale heraus, welche übereinstimmen und so Gemeinsamkeiten bilden.
Damals und Heute
Rückblickend empfinde ich in der Blumfeld-Diskografie keinen Bruch. Alle Platten knüpfen aneinander an. Oft lese ich, dass es bei Blumfeld mehrere Stilbrüche gegeben hat, empfinde dies aber beim Hören ganz und gar nicht so. Das hält sich alles in der Wage und baut aufeinander auf.
Dem letzten Punkt werden wohl auch die hartnäckigsten Kritiker zustimmen müssen. Trotz aller Einwände klingt “Verbotene Früchte” völlig heterogen, sucht sein Ziel von allen Seiten. Ein atmosphärisches, fast schon transzendentes Werk, wie es in seiner Einmaligkeit nur von einem Kopf wie Jochen Distelmeyer stammen kann. Vielleicht ein Dokument des Wiederfindens in taumelnder Ziellosigkeit? Egal! Es funktioniert. Haltet euch also ruhig daran fest!
Text: Marcus Willfroth
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