Jeff Tweedy, Kopf und Sänger von Wilco aus Chicago, hat sich aus einer Schlinge befreit. Böse Dämonen verfolgten ihn über Jahre hinweg, er litt unter Migräneanfällen, war schwer schmerzmittelabhängig und auch all die Drinks, die er in rauen Mengen soff, halfen nichts. Nicht, dass diese üblen Geister seine Karriere als Musiker negativ beeinflusst hätten. Im Gegenteil. Auf dem letzten, im Jahr 2004 erschienenen und hochdekorierten Album ‘A Ghost Is Born’, haucht Tweedy im ersten Stück ‘At Least That’s What You Said’ zart und fast unhörbar: “When I sat down on the bed next to you/you started to cry/I said maybe if I leave you’ll want me/to come back home/or maybe all you mean/is leave me alone.” Stille und Trauer bestimmen diesen Moment – bis plötzlich krachende Gitarrenakkorde, ein Schlagzeug, so wütend wie verzweifelt und ein Klavier unentwegt Splitter in die offene Wunde hämmern. Kein Psychodrama könnte intensiver besungen, keine Gitarrenwand einengender aufgebaut sein, als in diesem Song und auf diesem Album. Und doch scheint am Ende der Stücke immer wieder Hoffnung auf. Auch für Tweedy, dem allein die Musik die Kraft gab, durchzuhalten und weiterzumachen. Nach dem Erfolg – unter anderem der Gewinn eines Grammys im Jahr 2005 – von ‘A Ghost Is Born’ lieferte er sich selbst in eine Suchtklinik ein. Das brachte ihn sogar in die Schlagzeilen des US-Nachrichtensenders MSNBC, wie er heute nicht ganz ohne Stolz in Interviews erzählt.
Nachdem der Teufelskreis aus Drogen, Panikattacken und Depressionen durchbrochen ist, liefert er nun mit seiner Band, deren Besetzung konstant blieb, ein unwiderstehlich hoffnungsvolles, fast kathartisches sechstes Album ab. Das wieder voller schöner und bezeichnender Zeilen ist: “I survived/That’s good enough for now” oder “As we all can plainly see/Embracing the situation/Is our only chance to be free.” Tweedys Stimme klingt dabei staubig-warm wie die John Lennons, die Band Wilco spielt sich nebenher um den Verstand. So schön ist das. ‘Sky Blue Sky’ ist mehr als ein Albumtitel. Vielmehr ist er der Realität gewordene Höhepunkt einer Karriere voller musikalischer Entwicklungen, die den Horizont der Band seit der ersten Platte 1995 stetig erweiterten und für die – in uramerikanischer Manier – allein der Himmel die Grenze sein konnte.
Jeff Tweedys musikalischer Anspruch – nicht nur an sich selbst – ist berüchtigt und der Verschleiß an Musikern entsprechend. Doch nun scheint es, als hätte er mit Glenn Kotche (Schlagzeug), John Stirrat (Bass), Mikael Jorgensen (Keyboard), Nels Kline (Gitarre) und Pat Sansone (Gitarre) die perfekte Einheit gefunden. Stirrat behauptet sogar, ‘Sky Blue Sky’ sei, auch was den Entstehungsprozess anginge, das “zivilisierteste Album, das Wilco je gemacht haben.” Selbst wenn Tweedy immer noch die Songs im Kopf hat, sie aufschreibt und dann den anderen präsentiert: “Jeder sagt bei uns seine Meinung, und das funktioniert. Ich hoffe nur, dass sich das so schnell nicht ändern wird.” Sagt Stirrat und lächelt. Dass eine Menge Mut dazu gehört, zu sagen, was man meint, weiß das Gründungsmitglied der Band wahrscheinlich selbst am besten. Genauso bedarf es des Mutes zum Weglassen, und er betont in diesem Zusammenhang, dass sich solche ausufernden Geräuschorgien wie noch auf der letzten Platte dieses Mal nicht behaupten konnten. Statt schwierigen und zerfasernden Sequenzen gehen Wilco zurück zu den Wurzeln, zur Einfachheit. Wie die späten Beatles. Eine Pop-Band, deren Wolken verhangener, grauer Himmel sich gelichtet hat. Und dabei schaffen sie es immer, ihrem Perfektionismus musikalisch Gestalt zu geben. In ‘Walken’ zum Beispiel oder ‘Shake It Off’, angesichts dessen virtuoser und vielleicht etwas zu langer Gitarrenparts in King-Crimson-Manier sich manches Augenpaar verdrehen wird. Das neue Album – keine bloße Reflexion einer Gemütslage, sondern der stolze Ausdruck einer überwundenen Dunkelheit – ein weiteres, visionäres Wunderwerk einer Band aus Chicago, die nicht aufgibt.
Text: Rebekka Bongart
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